Da wollte ich eigentlich mehr über Willis Leben im 2. Weltkrieg herausfinden und dann lese ich – mühselig – einen Brief, den seine Mutter Konradine im Dezember 1944 an ihn geschrieben hat und tauche ab in das, was ich von ihr darin erfahre.

Sie schreibt einen 5-seitigen Brief an ihn an eine Adresse in Dießen am Ammersee:
M. d. 7.12.44
Lieber Willi!
Habe heute Nachmittag 4h Deinen Brief v. 30.11. erhalten u. kann mir nicht vorstellen was Du eigentlich vorhast. Ich bin seit dem Donnerstag wo Du zu mir kamst heut vor glaub ich acht oder neun Wochen mit dem wehen Finger u. sagtest ein Hund habe dich gebißen derart in den Nerven runter gekommen, daß ich vollständig erledigt bin.
Du hattest gesagt, daß du Freitag oder Sonnabend bestimmt kommst, hast dich aber weder hören noch sehen lassen u. ich wartete Zug für Zug konnte nicht mehr schlafen u. noch dazu die schweren Angriffe Keller rauf u. unter Tag und Nacht 4 – 5 mal Alarm und keinen Menschen der mir hilft u. dazu die Sorgen um dich, daß der Hund evtl. Tollwut hatte was ich mir besonders nachts Aller Schreckliches vorstellte. In allen Krankenhäusern u. Kliniken bin ich gewesen. Zuletzt war ich in Deiner Wohnung aber auch umsonst. Ich wartete wieder eine Woche und dann ging ich endlich zu Deiner Hausfr. u. die sagte mir daß nun deine Wohnung vermietet wird u. daß für Dich eingeschriebene Briefe gekommen waren u. Dein Briefkasten war gesteckt voll Sachen u. Niemand weiß wo Du bist. Denkst Du nicht daß hier gegen mich eine große Rücksichtslosigkeit ist, mich ganz im Unklaren zu lassen in dieser schweren Zeit wenn Ihr ein Kind hättet dann könntest Du das nachfühlen aber so muß ich so viel nunter fressen [?] ich bin nun bald 70 J. und was du jetzt wieder machst und ich komm mit der Unruhe überhaupt nicht herraus weil die Frau gesagt dass die Wohnung in Beschlag gelegt wird von der Partei weil ihr nie da seid. Wenn du schon 2mal in München warst, hättest du doch einen Sprung zu mir machen können; … hab ich noch deiner Schwiegermutter geschrieben, die fand es auch nicht der Mühe wert mir zu antworten u. so galt die Sorge immer wieder bei einem großen Angriff an dem Sonntag vor 5 Wochen wollte ich nach Menzing der Zug hatte schon 2 St. Verspätung und als er endlich einfuhr und ich schon zum Einsteigen ans Trittbrett mich einreihen wollte stiegen noch Schwestern und die Eine sagte zu mir, steigen Sie nicht mehr ein wir kriegen Großangriff gehen sie nur vom Bahnhof raus u. nun lief ich mit Ihnen bis zum N….neben der Trambahn for u. wollte einsteigen daß ich noch heimkomme da hielt die an u. ging nicht mehr weiter alles raus u. nun schoß die Flak u. wo gehe ich schnell hin da nehmen mich Soldaten mit in den Justizpalast und ich setzte mich in eine Ecke da fielen schon die Bomben, daß die ganzen elktr. Lampen hin u. herschwankten die Leute legten und setzten sich am Boden ich rührte mich nicht mehr denn ich dachte nun wird Schluß mit uns Allen u. dann waren es die Bomben vom Überfliegen u. nachher nichts mehr u. nach 2 Stund durften wir raus 3 Stück waren in den Hof gefallen wo wir unten drin waren u. Gott sei Dank hat er Stand gehalten. Als ich dann heim kam war schon wieder Alarm mein Fuß war am Schienbein voll Blut angeklebt schwarz u. blau u. ich weiß heut noch nicht von was u. hab auch nichts gespürt u. natürlich bin ich nicht mehr zum Gustl u. die haben sich auch nicht gekümmert nach 14 Tg. konnte ich telef…
Also hätte ich schon begraben sein können u. hatte Niemand etwas gewußt. Heute Morgen ½ 5 waren wir wieder 2 St. im Keller u. um ½ 1 h war schon wieder Voralarm u. wahrscheinlich wird bald wieder der Kuckuck schreien man verdreckt u. verlumpt Bett Kleider Schuhe liegt im Keller feucht u. verwahrlost. Warum wohnst du am Bahnhof wo sie doch jetzt alle kleinen Bahnhof suchen. Kannst du da keine leeren Räume kriegen in einem alten Bauernhof ich würde sofort wegziehen, denn jetzt wird es sicher ganz brenzlich. Otti wurde am Samstag vor drei Wochen gemustert im Hofbräuhaus Keller u. wurde K.V. geschrieben ich war seit dem Angriff im Justizp. nicht mehr in Menzing geh mich nicht mehr zum Bahnhof Otti war nach der Musterung noch bei mir u. am Montag war Gustl da u. hat gesagt daß er seit der Zeit nicht mehr da war. Entweder ist er schon fort oder am 10. Dez müssens bestimmt fort. Mechtilde ihr Elmar ist seit 4 Wochen vermißt. Es ist grausam. Nun wirst hoffentlich Wort halten u. kommen.
Einstweilen herzl Gruß
D. M.
So schlimm das alles, was Konradine beschreibt, für sie gewesen sein muss, der durchgehende vorwurfsvolle Bass-Ton lässt bei mir jegliche Empathie einfrieren. Es kommt mir zu bekannt vor.
Mein Vater hat mir von seiner Oma erzählt, die eine Zeitlang mit im Karwinkel lebte, und die „die böse Oma“ genannt wurde. Luises Mutter Anna hätte die Böse sein können, vor allem weil sie neben ihren beiden ehelichen Kindern eine uneheliche Tochter hatte, die sie erst in Pflege gegeben und später sehr lieblos behandelt hatte. Allerdings gibt es von Anna eine ganze Reihe Bilder aus den frühen 40er Jahren, wo sie sehr vertraut mit ihrem kleinen Enkel Peter zu sehen ist und man in dieser Zugewandtheit nix boshaftes erkennen mag. Angesichts dieses Briefes spricht dann wohl einiges für Konradine.
Zum Zeitpunkt des Briefes war Konradine schon seit über 30 Jahren verwitwet, weil ihr Wilhelm, also der Vater des Willi, an den der Brief gerichtet ist, schon 1913 im Alter von 43 Jahren gestorben war.
Wilhelm und Konradine – das Ehepaar
Als die 22-jährige Konradine am 29. Oktober 1898 ihren Wilhelm heiratet, ist ihr erster gemeinsamer Sohn Willi schon fast ein Jahr alt.

Vermutlich waren ihre Eltern, der Vater Heinrich Fuchs war ein Gärtnermeister aus Schwabing, von einem „Zuagroasten“ als Schwiegersohn nicht gerade begeistert gewesen. Mein Vater hat mir erzählt, dass die Gärtnerei in der Fallmerayerstraße gewesen sei und es eine kinderreiche Familie war, Konradine war eins von 11 Kindern. Wilhelm war 6 Jahre älter als Konradine und gebürtig in Damgarten/Ribnitz als neuntes von neun Kindern, sein Vater Christian, ein Stellmacher, hatte jeweils 3 Kinder von 3 Frauen. Wilhelm war als fahrender Malergehilfe unterwegs gewesen, 1891 in der Heimat auf Rügen gestartet, dann ist eine Anstellung in Dresden überliefert und fast ein Jahr beim Maler & Anstreicher Falkenstein in Wien, im VIII. Bezirk in der Josefstädter Straße, bevor er nach München gekommen war. Er wird in den Zeugnissen als „Malergehilfe“ tituliert, also sind seine Wanderjahre nicht die klassischen eines Handwerksgesellen. Konradine und Wilhelm bekommen dann noch einen weiteren Sohn, genannt August – meinen Opa Gustl, 1900 geboren. Gustl und Luise haben ihr erstes Kind übrigens auch Wilhelm genannt, es hat allerdings nicht überlebt. Der erste überlebende Sohn war mein Vater Otto, der den Wilhelm noch als zweiten Vornamen trug. Von meinen Söhnen heißt keiner Wilhelm, aber die heißen ja auch nicht „Weidemann“.
Als Konradines Wilhelm 1913 mit erst 43 Jahren stirbt, ist er von Beruf „Krankenkassenfunktionär“, er war vielleicht doch nicht der aufregende freie Wandervogel, als der er mir mit seinem Lebenslauf in jungen Jahren erschienen war. Die Söhne sind bei seinem Tod grade mal 16 und 13 Jahre alt, da hätten sie bestimmt noch einen Vater gebrauchen können. Konradine wird nach seinem Tod bei der AOK als DINGSDIBUMS übernommen und nachdem man sie 1935 in den verfrühten Ruhestand versetzt hatte, versucht sie nach der Nazi-Zeit eine Entschädigung zu erstreiten. Ich kann den übriggebliebenen Akten nicht entnehmen, ob sie etwas erreicht hat. Konradine hat bis 1956 gelebt, sie starb mit 79 Jahren und ist die Erste, die nachweislich auf dem Waldfriedhof beigesetzt worden ist, in demGrab, in dem alle Weidemanns nach ihr beigesetzt sind.
[…] Schwägerin kennen wir ja schon, das ist meine Urgroßmutter Konradine, von der habe ich schon erzählt. Mal nennt er sie Diene, mal Diening. Weiter […]
LikeLike
[…] Mutter, die Konradine, die uns auch bekannt ist, ist ein Dauerthema bei den beiden, ein schwieriger […]
LikeLike
[…] kriegt er doch noch seinen eigenen Beitrag, als Begleiter von Konradine habe ich ihn ja schon erwähnt. Ich habe ja dieses eine Foto, das mir ein paar Jahre älter vorkam […]
LikeLike