Willys Unfruchtbarmachung

Ich erinnere mich, dass mein Vater und mein Onkel Peter nach Willys Tod mehrere Abende und am Wochenende vermutlich auch Tage unterwegs waren, um seine Wohnung zu räumen. Es gibt die Erzählung, dass er einen großen Schrank hatte, der nur Schachteln enthielt. An der Innenseite der Schranktüre hing ein Zettel, auf dem der Inhalt der Schachteln notiert war und in jeder Schachtel lag ein Zettel obenauf, auf dem der detaillierte Inhalt der jeweiligen Schachtel verzeichnet war. Ich könnte so ein System nicht durchhalten, aber der Impuls dazu liegt mit sehr nahe.

Von all diesen Schachteln ist eine einzige übrig geblieben, die Jahrzehnte im sogenannten „großen Keller“ in meinem Elternhaus in einem muffig riechenden elfenbeinfarben lackierten Kleiderschrank überlebt hat. Ich habe diese Schachtel einmal zufällig entdeckt, aus dieser Zeit stammen die Erzählungen meines Vaters. Aber so sehr mich junge Kunst-Geschichtsstudentin diese Kiste faszinierte, ich habe sie trotzdem weiterhin dort begraben gelassen. Als der Keller von meinem Ex-Schwager das erste Mal geplündert wurde, ist es mir in einem glücklichen Moment gelungen, die Schachtel zu retten, aber mitgenommen habe ich sie erst, als ich das Haus verkauft habe.

Neben einer Mappe mit verschiedensten Versionen von kleinen Geschichten, imaginierten Briefen und nie veröffentlichten Zeitungsartikeln – darunter die Wurmperspektive -, einem Umschlag mit vielen Millionen Reichsmark aus den Zeiten der Inflation befand sich dort ein großer Umschlag mit folgender Aufschrift:

#108 Nazi-Dokumente

Darin befanden sich die gesammelten Beschlüsse, Benachrichtigungen und Ladungen der 1. Kammer des Erbgesundheitsgerichts des Amtsgerichts München. Willy und nach ihm mein Vater haben sogar alle dazu gehörigen Umschläge aufgehoben:

Die Dokumente des Erbgesundheitsgerichts schockieren mich vor allem in ihrer juristischen Korrektheit, die sie so unverfroren vorgeben; nein, es ist vermutlich noch schlimmer: Juristisch sind sie wahrscheinlich korrekt. Es ist alles geregelt, es gibt ein Extra-Merkblatt für die Schweigepflicht (darüber reden sollte man dann doch nicht) und bevor man meinen Großonkel unfruchtbar machen lässt, muss man natürlich erstmal seine Fruchtbarkeit feststellen.

Doch erstmal die Chronologie:

Im August 1937 wird Willy in der Psych. und Nervenklinik München aufgenommen, dort wird ein fachärztliches Gutachten erstellt mit folgendem Wortlaut:

„Macht einen lahmen, antriebsschwachen Eindruck. Steht seinen Erfindungen kritiklos gegenüber. In seinem Affekt schon ziemlich abgebaut. Hat infolgedessen eine gewisse Kritik gegenüber seinen Wahnerlebnissen. Pseudokontaktfähig.“

Beschluss der 1. Kammer des Erbgesundheitsgerichts vom 18. Mai 1938, siehe https://zwischenreich.com/dokumente-des-erbgesundheitsgerichtes/

Diese Gutachten führt zur Diagnose Schizophrenie und daraufhin wird dann das Verfahren zur Unfruchtbarmachung am 7.10.1937 eingeleitet. Seine Ehefrau Elisabeth wird als Pflegerin bestallt, mit der Begründung: „Weidemann Wilhelm ist wegen krankhaften Geisteszustandes nicht in der Lage, seine Belange im Verfahren auf Unfruchtbarmachung selbst wahrzunehmen.“ (Beschluss vom 7.10.1937).

Am 17.2.1938 findet eine Sitzung der 1. Kammer des Erbgesundheitsgerichts statt, in der über die Unfruchtbarmachung entschieden werden soll, wobei Willys persönliches Erscheinen angeordnet wird. In dieser Sitzung wird die Entscheidung dann vertagt, zuerst sollen Willys Spermien auf Fruchtbarkeit getestet werden.

Diese Untersuchung fällt folgendermaßen aus:

Laut Gutachten der Direktion der Dermatologischen Klinik in München befanden sich in dem produzierten Sperma reichlich bewegliche Spermatozoen. Auf Grund dieses Befundes steht die Fortpflanzungsfähigkeit fest.

Beschluss der 1. Kammer des Erbgesundheitsgerichts vom 18. Mai 1938, siehe https://zwischenreich.com/dokumente-des-erbgesundheitsgerichtes/

Für den 19.4.1938 wird eine neue Sitzung anberaumt, die dann aber abgesagt wird, warum lässt sich nicht sagen. In der Sitzung vom 18.5.1938, zu der Willys Erscheinen nicht notwendig ist, wie es in der Benachrichtigung dazu heißt, wird die Unfruchtbarmachung dann entschieden. Elisabeth widerspricht, es heißt: „Die Pflegerin (Ehefrau) erklärte sich mit der Unfruchtbarmachung nicht einverstanden.“ Das ändert allerdings nichts an der Entscheidung des Gerichts.

Feinsäuberliche Bürokratie legt sich bleiern über ein wie auch immer geartetes Unglück. Ein Veteran des 1. Weltkriegs leidet unter Depressionen und Antriebslosigkeit und gerät so in die Maschinerie des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“.

Mein Vater hatte mir erzählt, dass Willy sich mit Absicht für verrückt hat erklären lassen, um die Unfruchtbarmachung zu erreichen. Er hätte damit Elisabeth schützen wollen, die Jüdin/Halbjüdin gewesen sei. Wenn es so gewesen wäre, hätte es funktioniert, aber ich mag es nicht so ganz glauben; vielleicht ließ sich mit dieser Erzählung die Unfruchtbarmachung besser ertragen.

Zwei Jahre später wird der dann 43-jährige wieder zum Kriegsdienst eingezogen, im Februar 1940 ist er in Krakau stationiert. In den Krieg ziehen darf man auch als Geisteskranker.

Willi Weidemann in Uniform

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