
Ich liebe dieses Bild.
Ich war davon ausgegangen, dass dieser Otto Wilhelm (mein Vater ist ja auch einer) der Vater meiner Großtante Elisabeth war, also musste dieses Porträt in den frühen 20er Jahren entstanden sein; er wäre dann etwa 60 Jahre alt gewesen, das hätte hinkommen können. Der erste Zweifel stellte sich ein, als ich erfuhr, dass die Galerie bis 1969 bestanden hatte und der Wilhelm, für den ich ihn hielt, 1862 geboren war. Mit Ende 80 noch eine Galerie führen? Das passte nicht. Opa Gustls Geschäft war allerdings auch noch 20 Jahre, nachdem wir es aufgegeben hatten, im Telefonbuch zu finden, also könnte die Galerie auch nur noch auf dem Papier existiert haben. Aber das wurde mit jedem Bericht über Ausstellungen bis in die 60er Jahre hinein, den ich fand, unwahrscheinlicher.
So schnell gebe ich nicht auf. Ich reimte mir zusammen, wie mein Onkel Willi mit seiner Elisabeth die Galerie in Otto Wilhelms Namen geführt haben könnte, genau wie mein Vater Otto jahrelang unser Schuhgeschäft geleitet hat, auf das noch Jahre nach der Schließung der große Namenszug „A. Weidemann“ an der Hauswand über dem Laden verwies. Aber Willi, schon vom Naturell her die verkrachte Künstlerexistenz, war meinem Gefühl nach dazu nicht mehr in der Lage: Er war schon im 1. Weltkrieg als Soldat gewesen, dann hatte wohl ein echten Zusammenbruch, mit Aufenthalt in der Psychatrie und Unfruchtbarmachung und dann wurde er wieder eingezogen in den 2. Weltkrieg, nach Krakau, wo er auch noch verwundet wurde. Seine Mutter Konradine erwähnt in den 40er Jahren, dass sie ihn finanziell unterstützen müsse. Also Elisabeth alleine? Ich weiß nicht, wann Elisabeth gestorben ist, aber es gibt schon von 1952 eine „Zwischen-Rechnung“ der Privatklinik Dr. Westrich über DM 144.- für Aufbauspritzen gegen Herzinsuffizienz. Das muss eine Menge Geld gewesen sein für sie damals. Auch das macht nicht den Eindruck einer agilen Geschäftsfrau. Und dann ergaben meine Recherchen, dass dieses Foto im Jahre 1949 entstanden war. 77 Jahre alt war er auf diesem Foto definitiv nicht. Es dauerte Tage, bis sich in meinem widerständigen Hirn die Erkenntnis durchsetzte, dass Otto Wilhelm der gleichen Generation entstammte wie Willi, seine Elisabeth und mein Opa Gustl. Das passt zusammen mit der gemeinsamen Werkstattkunst in der Lindwurmstraße 17 direkt nach dem 1. Weltkrieg. Das war ein Projekt aus dem Aufbruchsgeist der jungen Kriegsheimkehrer, da passt ein 60-jähriger nicht dazwischen. Dann war Otto Wilhelm doch eher Elisabeths Bruder.
Das andere große Rätsel, dass sich um die Gauss’schen Familienmitglieder rankt, ist das Gerücht, sie seien jüdisch gewesen. Mein Vater hatte mir das im Zusammenhang mit der Unfruchtbarmachung von Onkel Willi erzählt, genauer: als Grund, warum Onkel Willi seine Unfruchtbarmachung selbst betrieben habe (siehe hier: Willys Unfruchtbarmachung). Und es gibt einen einsamen leeren Briefumschlag an die „jüdische Handlung Gauss“ von einem Herrmann oder einem Herrn Herrmann aus Buenos Aires. Auf dem Stempel lässt sich kein Datum entziffern, aber die Adresse in der Wi(e)denmayerstraße weist auf ein Datum nach 1946 hin, was mir aber auch erst jetzt klar geworden ist.

Dass mein Großonkel Willi diesen Umschlag ohne Inhalt aufgehoben hat, lässt mich vermuten, dass es ihm grade um diese Bezeichnung ging.
Ich war einfach davon ausgegangen, dass dieser Familienzweig jüdisch war, und als ich dann anfing, zur Galerie Gauss zu recherchieren, wuchs sich das Rätsel, wie eine „jüdische Galerie“ die ganz Nazi-Zeit hindurch existieren konnte und Otto Wilhelm auch noch mehr oder weniger offen mit der sogenannten „Entarteten Kunst“ Handel getrieben hat, zu einem Felsbrocken aus. Dieser Ausschnitt aus der Weltkunst von 1938 zeigt das sehr deutlich: Links die vorsichtige Anzeige der Galerie mit „Graphik des 19. – 20. Jahrhunderts“ (das kann ja alles mögliche sein…) und auf derselben Seite rechts die Abbildung einer Hitlerbüste von Herrmann Klimsch.

Das kann keine jüdische Galerie gewesen sein. Das wollte alles einfach nicht zusammenpassen, aber die paar Bruchstücke, die ich hier von meiner Verwandtschaft hatte, waren wie eine Mauer, gegen die ich mich erst mal stemmen musste, bevor die Erkenntnisse sich Weg bahnen konnten.
Irgendwann dann habe ich es doch geschafft, die Informationen aus einem Heiratseintrag aus dem evangelischen Kirchenbuch aus Stuttgart einsacken zu lassen. Dort heiraten Elisabeths und wohl auch Otto Wilhelms Eltern: Der katholische Wilhelm aus Tübingen heiratet am 13. April 1895 die evangelische Elise, geborene Leins aus Stuttgart. Die Tochter Elisabeth ist dann katholisch. Okay, also war das mit dem jüdisch einfach nur ein Gerücht ohne Hintergrund und Wahrheitsgehalt? Aber warum dann? Ich tue mir nachhaltig schwer, es auszuhalten, dass ich so wenig darüber weiß und keine Geschichte spinnen kann, bei der ich die losen Fäden verknüpfen könnte.
Alla hopp, oder angesichts der Stuttgarter Verwandtschaft auf schwäbisch: „Hobb!“, dann konzentriere ich mich auf das, was ich weiß. Auf dem Bild oben hat er mich ja schon gehabt, der Otto Wilhelm, und dann lese ich in einem der Zeitungsschnipsel zur Galerie Gauss, die auch in Willis Schachtel überlebt haben:
„Ein Gang zu Gauss ist immer ein Vergnügen – die Galerie liegt an einer der schönsten Stellen Münchens, Widenmayerstr. 46, Eingang allerdings Widenmayerstraße 47, dann durch den Hof und eine Montmartrestiege hinauf, durch eine große Küche in die Ausstellungsräume, und die sind hoch und hell, und der Blick auf die Isar muß den Empfindsamen an die Seine beim Louvre erinnern. Und Herr Gauss selber sieht, je grauer er wird, einem Kunsthändler aus der Rue de Seine immer mehr ähnlich – freilich hat er es schwerer und muß bitter kämpfen auf seinem exponierten Vorposten des modernen Münchner Kunsthandels.“
Peter Trumm. Emil Nolde in der Galerie Gauss, siehe: Zeitungsschnipsel zur Galerie Gauss
Gibt es heute noch Journalisten, die mit einem Satz eine ganze Welt entstehen lassen können? Und natürlich sehe ich mich als Kind im milden Sonnenlicht in dieser Küche sitzen, über meine Hausaufgaben gebeugt, bis ich von vorbeigehenden Galeriebesuchern unterbrochen werde. Die freuen sich darüber, einen Einblick in den Alltag des geschätzten Monsieur Galeristen erhascht zu haben und ich tue ganz normal. Dieser Moment ist so lebendig wie die Szene mit Onkel Willi und Opa Gustl im sonnigen Karwinkelgarten mit Weißbier, Filzpantoffeln und Akkordeon, da sehe ich mich auch im Schneidersitz in der Wiese neben meinem Vater sitzen, der mit der Kamera hantiert, und ich zupfe Gras. Da war er ein Teenager und ich noch lange Jahre in Abrahams Schoß, und auch in der Galerieküche bin ich nie gewesen.
Was von der Galerie übrig blieb
Es gibt ein paar Mappen mit Grafik, die in verschiedenen Etappen über die Jahre, eigentlich Jahrzehnte, den Weg zu mir gefunden haben. Ich war eine junge Studentin – ja, der Kunstgeschichte -, als ich sie im sogenannten großen Keller meines Elternhauses das erste Mal in die Finger bekam und mich die Erkenntnis, dass ich die Werke so überhaupt nicht einordnen konnte, weder kunsthistorisch und noch viel weniger monetär, so verschreckt hat, dass ich die Mappen wieder dem kellerlichen oder wahlweise speicherischem Vergessen übergab. Bis zum nächsten Anlauf.
Als wir den Karwinkel geräumt haben, fanden wir im Speicher eine überdimensioniert große Mappe und ich verkündete auf Facebook mit freudestrahlender Ironie, dass ich jetzt endlich ein paar Picassos gefunden hätte:

„Aber die sind doch nicht echt, oder? Das sind doch nur Poster, oder? Aber wenn nicht? Na ja, signiert sind sie ja nicht, jedenfalls nicht handsigniert, das sind nur Kunstdrucke. Oder doch Lithografien? Aber immerhin alte Drucke, vielleicht ist das ja deswegen etwas Besonderes? Ach ne, wir haben doch keine echte Picassos im Speicher, das wär‘ ja voll der Witz…“ Die komplette Ahnungslosigkeit angesichts vom echtem Papier führte auch dieses Mal dazu, dass ich die Mappen wieder versteckt habe, versuchsweise sogar vor mir selbst. Da braucht es erst einen Vorruhestand und Corona, das ich mich wieder dran wage und dabei lerne, dass sich das Internet in den letzten 20 Jahren doch zu einer soliden Informationsquelle entwickelt hat. Ich weiß immer noch nicht wirklich, was sie wert sind, aber es sind echte Lithographien, insofern sie von Picasso selbst zu Lebzeiten in Auftrag gegeben wurden. Und es sind nicht die 735 Friedenstauben, der blaue Rückenakt oder andere dekorative melancholische Harlekins, die heutzutage die Bildersuche nach Picasso dominieren, sondern ein Kopf aus La Guernica und eine Studie zu den Les Demoiselles d’Avignon (das Original im MoMA in New York); gute Wahl, kann ich da nur sagen.
Ähnlich ging es mir den Blättern der Berliner Secession zu „Krieg und Kunst“ aus den Jahren 1916 bis was-weiß-ich. Ich kann mich erinnern, dass ich im Keller stand, also jetzt wieder die junge Studentin, und es interessant fand und dann wieder dachte, „Ach ne, das ist meinem Professor Schubert bestimmt nicht pazifistisch genug, da beschäftige ich mich lieber nicht damit…“ Auch eine Ausrede. Nein, darum ging es gar nicht, es ging darum, dass ich meine Herkunft verstecken wollte und auch meinte zu müssen. Mit solchen Schätzen würde ich in einem Licht dastehen, würde wahrscheinlich auch noch beneidet werden und zudem mit einem Hintergrund versehen, der nicht wahr war. Alle würden denken, dass ich aus einem kunstgetränkten Haus käme; die Kunst war aber schon in Weißwein der Sorte Morio Muskat ersoffen.








Da ist alles vertreten: Vermeintlich friedliche Landschaften, verwundete Soldaten, verwüstete Dörfer, orientalische Motive, aber auch apokalyptische Reiter und allegorische Szenen. Das wäre wohl ein interessantes Thema gewesen, zum Beispiel für eine Magisterarbeit, so von heute aus betrachtet. Na ja, mein Georg Kolbe war dann auch spannend.
Und dann noch mal eine bunte Auswahl:















Es ist eine Überfülle der verschiedensten Themen, als Zeichnungen, Radierungen oder Lithographien, zurück bis ins 19. Jahrhundert, vieles aus den Zwanziger Jahren, aber auch frische leichte Nachkriegsblätter aus den 50ern. Dazwischen versteckt noch ein bisschen van Gogh und Kokoschka, aber das lassen wir jetzt mal. Mit archivarischem Eifer dieses Mal alles sortiert, gesichtet, durchfotografiert und erforscht, so weit das weltweite Web es hergegeben hat. Abende vorm Fernseher, wo wir beide versucht haben, Signaturen zu entziffern und jeder neu zugeordnete Künstler – gefühlt – mit einem Ouzo begossen werden musste. Wohin mit dem Zeug? Das muss doch auch in die Welt, oder? Das berühmte Stuttgart-Münchener Auktionshaus befand das alles zu „Pnip“, zu schlecht erhalten und den Verkauf zu aufwendig. Also mal sehen.
P. S. Wer noch nicht genug von der Gauss’schen Graphik hat, die momentane Gesamtübersicht gibt’s hier: https://www.flickr.com/photos/195324017@N04/albums
Nachtrag 10.06.2022
Und jetzt haben die Bilder einen Platz gefunden im Himmel! Okay, in einem irdischen Himmel, einer Galerie in Dresden, die sich jetzt ihrer annehmen und sie in das Licht zurückbringen, in das sie gehören. Danke.
Einfach toll.. eine Freude und Spannung zu lesen… fühle in allen Ecken mit
Herzlichst Gretel
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