Als ich endlich akzeptiert hatte, dass ich doch wohl vom Krebs befallen war, obwohl es im weiblichen Teil meiner Familie doch ausgemacht gewesen war, dass Eva für Krankheit und Sterben im Allgemeinen und Krebs im Besonderen zuständig war, wollte ich ihn erforschen, begreifen, ja eigentlich: sehen. Aber der Krebs versteckt sich im Inneren des Körpers, er ist unsichtbar, die Schwärze, die im Zentrum meines Körpers, tendenziell links vom Sonnengeflecht (ist gar nicht so esoterisch, wie es klingt, ist einfach der Solarplexus) saß, dort, wo der Torso zu lange unter der verrostenden Rüstung mit Sauerstoffmangel vor sich hin geschimmelt war. Alles nicht zu tasten und kaum zu spüren. Nur vermittelt über Luftnot beim Treppensteigen oder den Kälteschock beim Versuch, den Oberkörper ins Schwimmbecken eintauchen zu lassen. Die Schwärze hatte ich schon gefunden, aber sie war eine Schwärze des depressiven Gifts, ich hatte ihr keine körperliche Seite zugeschrieben.
Das Einzige, was sich tasten ließ, war der sogenannte Knoten in der rechten Brust, klein und harmlos im Vergleich zum später zum Papillom erklärten Riesenknoten, den ich als erklärtermaßen „gutartig“ schon seit über 10 Jahren in der linken Brust barg. Im Englischen heißt es übrigens „lump“ und bietet keine Assoziation zu verknoteten Schnüren wie das Deutsche.

Als ich um den vergleichsweise kleinen Knoten wusste, und damit auch wusste, wo ungefähr er in meiner rechten Brust lokalisiert war, konnte ich ihn dann auch ertasten. Die erste Erkenntnis war, dass 1,8 cm ganz schön klein sein können. Nachdem ich angefangen hatte, ihn regelmäßig aufzusuchen, störte mich immer mehr die Diskrepanz zwischen den Bildern, die ich auf dem CT, MRT oder Ultraschall zu sehen bekommen hatte und bekam und dem, was ich in meiner Brust mit den Fingern blind erspürte. Es heißt immer „Knoten“, aber der Knoten wand sich um kleine Röhrchen; Jahre zuvor hatte eine Frauenärztin das als Gartenschläuchlein bezeichnet und deswegen hatte ich gedacht, das seien gesunde Teile der Brust.
Erst als ich mich überwand, meine Nudelknoten dem Rockabilly-Gynäkologen bei der Kontrolluntersuchung zu zeigen, – sehr aufgeregt, weil ich fürchtete, mich mit meinem Gebastel lächerlich zu machen – bestätigte er mir nicht nur die korrekte Erfassung der Größen und ihrer Veränderung, sondern erwähnte auch nebenbei, dass der Begriff „Krebs“ von den Füßchen käme, die ich so originell mit den Nudeln veranschaulicht hätte. Ach so.

Einfach so ein ganz normaler Krebs also, rot wie der rote Hund, als den mein Vater mich an der Leine durch mein ge-alpträumtes Obermenzing geführt hat.
Alles, was nicht dieses Knötchen war, blieb fürs Tasten und großenteils auch fürs Spüren nicht erreichbar.
Gefunden hatte den Krebs ja eigentlich der Kardiologe, der als Nebendiagnose beim Ultraschall des Herzens „Wasser im Lungenspalt“ gefunden hatte (mein Kardiologe ist immer um verständliche Sprache bemüht, Ironie aus). Google gab mir als Ergebnis einfach direkt „Pleura-Erguss“ und von dort aus führte es weiter zu Begriffen, die sich einbrannten. Das eine war das banale: Rippenfell, Zwerchfell, Lungenfell, das sind in meiner Vorstellung einfach nur die Kaninchen- und Hasen-Fellchen, die ich von einem verschneiten Ausflug auf die vom Fackelschein der nach Benzin stinkenden Feuerschlucker beleuchteten Burg Lichtenberg mitgebracht hatte. Alleine in der wundersamen Winterdämmerung durch den Schneematsch gestapft, dem breiten Slang der amerikanischen Soldatenfamilien lauschend, die dort ihren Kindern das deutsche Mittelalter auf dem Weihnachtsmarkt vorführen wollten, fand ich in einem runden Zelt eine Marketenderin, die mir aus einer Truhe die verschiedensten kleinen Felle holte, die dann am Ende auf dem Kissen in der Thoraxklinik landeten und mir dort einen winzigen Rest von Geborgenheit boten. Dann stand im allerersten ärztlichen Bericht, versteckt hinter der sogenannten Krebsbiologie, an der ich die ersten Wochen nicht vorbeilesen konnte, dass mir von den Pleura-Ergüssen eine gefesselte Lunge geblieben war. Ich glaube, das geht nur im Deutschen, dass die medizinische Sprache so nahtlos von lateinischen Reimbegriffen wie Lymphangiosis carcinomatosa (hakuna matata) zu solch bildgewaltigem Deutsch wechseln kann. Wenn ich „gefesselte Lunge“ höre, schnürt es mir prompt die Luft ab.
Gefesselte Lunge bedeutet, dass, auch nachdem das Pleurawasser abgelassen wurde, die Lunge sich nicht wieder ausdehnen kann in den Raum, den sie ursprünglich eingenommen hat. Um zu verhindern, dass neues Wasser nachläuft, wird auch heute noch Talkum in den Lungenspalt gepudert und durch die darauf folgende Entzündung vernarbt das Gewebe, das zum Thema moderne Medizin. Das Legen einer Dauerdrainage hat in der Hälfte der Fälle diesen Effekt, auch bei mir. Mein Krebs hatte allerdings die Produktion von Pleurawasser auch auf der rechten, unbehandelten Seite eingestellt; es scheint, als hätte es ihm gereicht, endlich gesehen worden zu sein.

Erst war das Bild eines ockergelben Bienenkorbs, mit Schnüren gebunden, gefesselt also, dann, nachdem der Onkel Onkologe (kein Märchenonkel, aber ein altersweiser Onkel doch) mir „nicht Monate, sondern Jahre“ versprochen hatte, wandelte sich das Netz um die Lunge in eine mit kleine Perlmuttplättchen besetzte Kette, das zarte Netz aus fast unsichtbaren Nylonfädchen gewebt, die so vor 10 Jahren mal sehr Mode waren. An den Enden der Fäden können sie allerdings dann doch wieder unangenehm piksen. Geholfen hat hier übrigens, neben dem Verzicht auf Nikotin, das warme braune Holz der Flöten und das matt schimmernde Gold des Tenor-Saxophons.

Und da ist er, der 5-jährige Junge in seinen hellblauen Lack-Lederhosen, sitzt auf einer Metastase und füllt meinen Lungenspalt mit Wasser aus seinem Puppen-Gartenschlauch, auf dass ich endlich merke, wie es um mich bestellt ist. Wieder einmal ignoriert er mich, aber er tut, was getan werden muss. Er bringt mit dem Hellblau, das am Ende Heilung signalisieren wird, den Krebs und den ganzen dazugehörigen Schmodder an die Oberfläche.
Und gute 3 Jahre später ist es, wie meistens, ein Arztbesuch, der eine neue Perspektive anstößt. Ich frage die hinterpfälzische Frauenärztin, wo die Metastasen wachsen könnten, wenn denn welche wachsen würden und sie beschreibt mir anschaulich, wie sie sich einfach vom Ursprung aus verbreiten. Ich habe die ganze Zeit in Strukturen und Organen gedacht: Lunge, Mediastinum, Lymphknoten oder Knochen, aber es ist – erstmal – nur die pure Entfernung, über die er sich verstreut, wie wenn man eine Handvoll Samen auf die Erde wirft.

Und es ist der Rückenakt von Picasso, in den 80er Jahren wohl in jeder zweiten Frauen-WG als Poster zu finden, Symbol einer starken, kräftigen Frau, die sich nicht zur Schau stellen muss, um schön zu sein, allerdings gespiegelt, wie er sich in meiner Erinnerung gedreht hatte. Ein sehr individuelles, aber doch tausendfaches Selbstbildnis meiner weiblichen Generation. Und genau das macht die schwarz-gefleckte Zerstörung besonders schmerzhaft. Als ich es gemalt hatte, bin ich mehrere Nächte lang, ein Zimmer von diesem Bild entfernt, im Bett gelegen und habe es innerlich gesehen auf dem Fensterbrett, neben Alpenveilchen und gelb-randigem Bogenhanf. Es hatte einen Sog, schmerzhaft, aber auch beruhigend in der tiefen Erkenntnis, einen Ausdruck gefunden zu haben für die Krankheit.