Emil Nolde in der Galerie Gauss

Ein Gang zu Gauss ist immer ein Vergnügen – die Galerie liegt an einer der schönsten Stellen Münchens, Widenmayerstr. 46, Eingang allerdings Widenmayerstraße 47, dann durch den Hof und eine Montmartrestiege hinauf, durch eine große Küche in die Ausstellungsräume, und die sind hoch und hell, und der blick auf die Isar muß den Empfindsamen an die Seine beim Louvre erinnern. Und Herr Gauss selber sieht, je grauer er wird, einem Kunsthändler aus der Rue de Seine immer mehr ähnlich – freilich hat er es schwerer und muß bitter kämpfen auf seinem exponierten Vorposten des modernen Münchner Kunsthandels.
Soeben hat er eine Ausstellung Aquarelle und Druckgraphik von Emil Nolde eröffnet, der lebhaftester Besuch zu wünschen ist. Mit seinem feinen Sinn für Qualität und wirkungsvolles Nebeneinander hat Gauss eine Sammlung von Perlen aus dem Werk des Meisters von der Wasserkante zusammengebracht. Eine Entwicklung gibt es bei Nolde, seit er aus dem Tasten der Jugend heraus war, eigentlich nicht, um so überraschender ist es, daß er heute noch mit solcher Kraft zu uns spricht, die wir doch an weit radikalere Bemühungen gewohnt sind. Man sieht einige Holzschnitte, Lithos und Radierungen. Jede dieser graphischen Techniken entwickelt Nolde ganz aus dem Material und läßt ihm die größtmögliche dekorative Wirkung.
In seinen Langholzstöcken, die er fast nur parallel der Faser bearbeitet, spricht das Holz so stark, als habe es die künstlerische Form dem Künstler aufgezwungen. Seine Radierungen sind auf Eisenplatten geätzt, die er bei Gelegenheit stark verrostet, kaufte. Rostflecken und durchgeätzte Punkte werden zur Tugend der Not und zum starken malerischen Mittel. Die Blätter vom Hamburger Hafen gehören zum Besten, was er geschaffen hat. Die Lithographie ist frech und frisch mit dem Pinsel gemacht, gelegentlich mit einem farbigen Stein überdruckt. Unter den Aquarellen gibt es Meisterstücke, wie das „Mädchenbildnis“ in Gelb und Violett, die „Schauspielerin“ in Rot und Orange und die „Glühenden Fische“ mit ihrer faszinierenden Lebendigkeit.
P e t e r T r u m m
Kleines Format – große Kunst

Im Abstand eines Menschenalters dürfte es erlaubt sein, von der „großen Zeit“ des Expressionismus zu sprechen, die um die Wende des ersten Weltkrieges vielleicht sogar eine Zeit von der Größe und Bedeutung der frühen Renaissance gewesen ist. Seit den Malern des „Blauen Reiters“, der „Brücke“ und des „Bauhauses“ hat die Kunst ein von Grund auf anderes Gesicht; sie hat, entsprechend dem Doppelsinn des Wortes, ihr Gesicht um 180 Grad von außen nach innen gewendet. Daß es sich beim Expressionismus nicht um eine der zahlreichen „Moden“ des 19. Jahrhunderts gehandelt hat – wie etliche noch immer glauben -, ist durch die inzwischen stattgefundene Entwicklung erwiesen, durch die unmittelbare Beziehung, die uns weiterhin mit jenen Bildern von 1912 – 1920 verbindet, und insbesondere auch durch die außerordentliche Qualität dieser Arbeiten, in denen sich ein sublimierte künstlerische Traktion mit der Vision einer neuerschlossenen innerseelischen Welt auf einzigartige Weise verbindet.
So ist es möglich, daß in den zwei Zimmern der Kunsthandlung Gauß eine Ausstellung von Graphik, Zeichnungen, Aquarellen und Ölgemälden kleinen Formates (alles aus Privatbesitz) gezeigt werden kann, deren innere Bedeutung in umgekehrtem Verhältnis zu ihrem äußeren Umfang steht, ja gar nicht groß genug eingeschätzt werden kann.
Hier sind so gut wie alle deutschen Expressionisten der Frühzeit vertreten, angefangen von Franz Marc, Kandinski, Jawlenski, Macke, Klee, Camendonk und Feininger, Kirchner, Schmidt-Rotluff, Pechstein und Heckel, Otto Müller, Rohlfs, Nolde, Barlach und Modersohn-Becker, über Kokoschka und Beckmann bis zu George Grosz, Dix und Scharl. Und zwar ein jeder mit einem oder mehreren besonders köstlichen Stücken, die den Inbegriff seiner besonderen Kunst und Individualität in sich bergen. Das einzelne besprechen, hieße einen vollständigen Abriß jener begnadeten Zeit schreiben.
Nur auf die drei kleine frühen Ölgemälde Hofers und die frühe Lithographie der Pferde vor hellgrünem Grund von Franz Marc sei hingewiesen, da sie die Meister sehr reizvoll in ihren fast noch impressionistischen Anfängen zeigen. „In Erinnerung an das Jahr 1937, der Ausstellung Entarteter Kunst werde ich immer gedenken an Frau Anne König“, steht unter eine Bleistiftzeichnung von Barlach, der damals bei seinem Freunde, dem Maler Leo von König, „schöne Arbeitswochen“ am Starnberger See verbrachte. Mit dem unfehlbaren Instinkt für das Böse, den man Hitler lassen muß, wußte er der deutschen Kunst nach dem Kern ihres Lebens zu zielen. Als ich die Ausstellung verließ, hatten sie die zwei Zimmer im 4. Stock der Widenmayerstraße 46 mit lauter jungen Menschen gefüllt, die angelegentlich und mit sichtlicher Erkenntnisfreude die Anfänge der Kunst unserer Zeit studierten, die zart, wundersam und köstlich wie die ersten Blüten des Frühlings sind.
W o l f g a n g P e t z e t
Originale an die Wand

… In der Widenmayerstraße steigt man die Wendeltreppe zu Herrn Gauß hinauf, ein vergnügter Pessimist, bester Kenner französischer Graphik in München. Auch seine Listen, im Vergleich zu denen der anderen luxuriös, nämlich gedruckt, enthalten Zeichnungen, Graphik und dazu seltene Kunstbücher aus aller Welt. Nach 1933 versorgte er uns alle mit dieser damals „unerwünschten“ Literatur, nicht ohne Kopf und Kragen zu riskieren. …
Das tägliche Bild: Otto Wilhelm Gauß

Otto Wilhelm Gauß ist der Leiter der nach ihm genannten Galerie in der Widenmayerstraße. er ist gebürtiger Stuttgarter und seit 1902 in München. Nach dem ersten Weltkrieg begann er als Autodidakt im Kunsthandel mit viel Neigung und Idealismus für diese im Kunstleben so wichtige Arbeit. Die moderne Malerei wird von ihm besonders gefördert; viel besucht war in jüngster Zeit seine Ausstellung von Zeichnungen des Künstlerkreises um den „Simplicissimus“.
Weitere Hinweise
Viel Information zur Galerie Gauss gibt es auch noch in der digitalen Sammlung der Berlinischen Galerie, die eine Karteikarte für das (nicht erschienene) „Lexikon des Kunsthandels der Moderne im deutschsprachigen Raum 1905-1937“ digitalisiert hat: Werner J. Schweiger. Kunsthandlung Gauss. Berlinische Galerie, Online-Sammlung