Immer wenn ich in Willis Schachteln oder den alten Fotos von meinen Großeltern herumkruschle, kommen mir Fotos und Postkarten aus den verschiedenen Kriegen in die Finger und oft genug sind sie von Konrad Kiesl. Noch ein Großonkel meinerseits und in den Zeiten des 1. Weltkriegs ein guter Freund vor allem von Willi, aber auch von Gustl, der es dann bald auf Konrads Schwester, meine zukünftige Großmutter Luise abgesehen hatte.
Beim Durchblättern der historischen Kartons gewinne ich den Eindruck, dass Konrad derjenige aus meiner Verwandtschaft ist, der am ehesten einer der jungen Soldaten hätte sein können, die ja alle angeblich 1914 nicht schnell genug in den Krieg ziehen konnten. Ganz so schlimm war es allerdings nicht, freiwillig hat er sich nicht gemeldet.
1917 hat er sich in einem Foto-Atelier in Uniform porträtieren lassen:

Da ist er 20 Jahre alt, auch wenn man das heute nicht glauben möchte, Milchgesicht hat man früher zu diesen Bübchen gesagt. Es bemüht sich um einen der Lage angemessenen, ernsten Ausdruck und da er in Miesbach stationiert ist, passt die Gebirgslandschaft im Hintergrund ja gut. Er hat auf Rückseiten von Postkarten oder solchen Fotografien seine Briefe geschrieben und hier lesen wir den zweiten Teil seiner Nachricht an die Großeltern:
II.
ich nicht ins Feld komme ist es nicht schlimm, sogar sehr schön Soldat zu sein. Der Mann wo nicht Soldat war, ist kein Mann. Ich denke, daß wir vor Ostern nicht fort kommen.
Das Essen hier ist hochfein; bekommen in der Woche viermal Fleisch; wenn man dann noch von zu Hause hie und da was bekommt so hat man immer genug zu essen. Vielleicht bekomme ich doch einmal unverhofft Urlaub dann erzähle ich euch alles mündlich einstweilen sendet Euch
Herzliche Grüße Euer dankbarer Enkel Konrad. Auf Wiedersehen!
Auf einer anderen Karte, die er auch für eine Nachricht an die Großeltern verwendet hat, sieht man ihn mit verschränkten Armen im Zentrum seiner Kameraden:

Durch diese Geste, aber vor allem durch seinen Gesichtsausdruck sticht er heraus. Die Kameraden schwanken zwischen dem Versuch von heroischem Ernst oder – die beiden, die am Boden liegen – strotzen vor Coolness mit einem Bierkrug, der vor (künstlichem?) Schaum überquillt und lässig zwischen den Fingern eingeklemmten Zigaretten, aber Konrad lächelt fast süffisant und ist sich sicher, es genauer zu wissen, was auch immer es sein mag.
Vom März 1917 gibt es diese Postkarte mit dem Titel „Morgenrot“ und dem Text „Bald wird die Trompete blasen. Dann muß ich mein Leben lassen. Ich und mancher Kamerad!“.

Mir war nicht klar, wie explizit die Todesthematik in solchen Postkarten aufgegriffen wurde. Der Text übers baldige Sterben – in Wirklichkeit ja zumeist ein jämmerliches Verrecken – steht in groteskem Widerspruch zu dem uns freundlich, leicht verträumt anblickenden Soldaten vor einem Hintergrund, in dem unter dunklen, abziehenden Gewitterwolken das titelgebende Morgenrot aufscheint. Neben ihm sehen wir zwei Kameraden, die nah beieinander liegen, wohl in ein Gespräch vertieft. Romantisierte Todessehnsucht und homoerotisch aufgeladene Soldatenfreundschaft in einem Bild vereint.
Konrad schreibt auf die Rückseite:
Mittwoch 29. März 1917. (Miesbach).
Meine Lieben!!!
Habe Euer Paket mit Wäsche erhalten und danke bestens dafür. Mir geht es gut u. bin soweit auch gesund. Wann wir fortkommen weiß ich noch nicht; am 1. April wird sich verschiedenes ändern. Ob wir zu Ostern Urlaub bekommen, weiß ich auch nicht; ich verzichte auch ganz gern darauf, nach dem was vorgefallen ist. Die Sache ist geregelt, doch ich kann die nicht mehr schreiben darüber, ich will nichts hören. Vielleicht kann ich später einmal näheren Aufschluß geben, aber jetzt meine bedürftige Ruhe. Laßt mich gehen, es wird schon alles recht!
Also laßt Alles gehen u. verschont mich und macht die Sache nicht noch schlechter.
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Die erhaltene Wäsche hat nicht so presiert; doch meine Hosenträger kann ich nicht mehr brauchen; wenn wir fort kommen brauch ich andere. Ich weiß nichts anders mehr u. schließe für heute.Mit Gruß Konrad.
So gerne man wissen möchte, was vorgefallen ist, das bekommen wir nicht mehr heraus; und es gibt schon lange niemand mehr, den ich fragen könnte und wahrscheinlich hätte auch Konrad selbst sich nicht mehr daran erinnert, wenn ich als neugieriger Teenager ihn in den Siebziger Jahren danach gefragt hätte. Aber im Kontext dieser Karte erzählt uns das trotzdem etwas: Der wie auch immer geartete Ärger daheim treibt den jungen Konrad natürlich erst recht zum Soldatenleben.
In den Kriegsranglisten und -stammrollen des Königreichs Bayern für die Zeit des 1. Weltkriegs habe ich ihn gefunden, als Beruf ist dort Lagerarbeiter vermerkt. Er wird am 7.11.16 auf Seine Majestät König Ludwig III vereidigt, als „Mitgemachte Gefechte“ sind verzeichnet:
- 12.8. – 3.9.17 Durchbruch Schlacht nach Putna am Susita [Rumänien]
- 28.8.17 Einnahme von Muncelu [Rumänien]
- 4.9. – 14.9.17 Stellungskampf am Sereth und Susita [Flüsse in Rumänien]
- 15.9.17 – 2.1.18 Feldzug gegen Italien

Trotz der „sehr guten Führung“ erwischt es Konrad auch mal und er muss „2 Stunden Strafexerzieren“, aber richtig heftig wird es dann Anfang 1918. Für den 2.1.18, also auf dem Feldzug gegen Italien wird vermerkt: „weg. erfrorenen Füßen v. Kriegssammelstelle Fehle überw./ Im Piave Tal Füße erfroren Dienstbesch[einigung]. lag vor“. Nach ein paar Tagen im Spital und einem Transport ist er dann vom 12.1. bis 19.2.1918 im Reservisten Lager Jauer verzeichnet. Ob der Krieg damit für ihn beendet war, kann ich nicht verifizieren.
An dieser Stelle muss ich mich einmal ausdrücklich bei den Mitgliedern der Facebook-Gruppe „Sütterlinschrift (Kurrentschrift) altdeutsche Schrift lesen und schreiben“ bedanken, ohne deren prompter und ausdauernder Hilfsbereitschaft ich vieles hier nicht berichten könnte.
Nach dem Krieg orientiert Konrad sich jedenfalls neu und flirtet dann mit dem Gedanken, sich als Künstler den Lebensunterhalt zu verdienen, Gustl schreibt im März 1920 in einem Brief an Luise:
Ist Konrad noch immer so verrückt mit seiner berufsmäßigen Theaterausstattung? Ich wünsche ihm nur daß er bald vernünftig wird. Wenn er wirklich Talent hat, nicht heiraten und auf die Flimmerbühne gehen, oder ein sittenreiner braver Ehemann werden. Eins vom beiden. Die Wahl soll er selbst ausführen.
Gustl Weidemann und Luise Kiesl- Briefe aus dem Jahr 1920
Aus dieser Zeit stammt dann wahrscheinlich auch dieses Foto, das ihn als sehr traurigen Pierrot zeigt:

Schwungvoll mit Tinte hat er das Bild unterschrieben, vielleicht ist das etwa eine Autogrammkarte?
Gustl wird nach dem 1. Weltkrieg im 2. wieder eingezogen, sogar den mit Schizophrenie diagnostizierten Willi erwischt es und so bleibt auch Konrad nicht verschont. Inwieweit seine erfrorenen Füße aus dem 1. Weltkrieg ihn noch behinderten, weiß ich nicht. Eine erste Karte, die er seiner Schwester Luise schreibt, stammt vom 6. September 1939 und im Gegensatz zu seinem Schwager Gustl, der zu diesem Zeitpunkt in der Heimat in Ingolstadt stationiert ist, hat es Konrad schon nach Dobrichovice verschlagen, am 12. 10 und im März 1940 ist er in Radotin bei Prag:
Am 29.04.1940 schreibt er eine Karte an Gustl aus aus Pardubice im heutigen Tschechien. Er ist G.v.H. (Garnisonsverwendungsfähig Heimat) geschrieben und sein Heimatbataillon sei in Rosenheim. Aber auch im Mai gibt es immer noch Post aus Prag, im Juni fährt seine Frau Anny ihn mit Tochter Marianne dort sogar besuchen. Vielleicht zählte Prag in Nazi-Deutscher Logik schon zu „Heimat“.
Und wieder sticht Konrad aus der Soldatentruppe heraus. Er ist jetzt über 40 Jahre alt, und wieder sieht er viel jünger aus als er war. Diesmal sehen wir zwar keine launigen Biertrinker und Raucher, aber dem gesetzten Ernst in den den Gesichtern der Kameraden setzt Konrad wieder ein leises Lächeln entgegen und dazu zeigt er sich breitbeinig, die Hand aufs linke Knie gelegt, als könnte es jetzt langsam mal losgehen. Nach dem, was er im 1. Weltkrieg alles erlebt haben muss, und jetzt als Familienvater von zwei Töchtern, möchte ich dann doch eher die aufgesetzte Mimik eines Rollenspielers darin erkennen als zu glauben, dass er immer noch freudig auf die Gelegenheit wartet, in den Krieg zu ziehen. Aber wenn man sich nur die Fotos anschaut, gewinnt man den Eindruck, es wäre ihm egal gewesen, ob er für König Ludwig oder die Nazis in die Schlacht zieht, Hauptsache unter Kameraden und das Abenteuer der Schlacht..

Wie lange er dabei war, habe ich nicht herausfinden können.
Aus dem Jahre 1957 habe ich einen an ihn adressierten Brief, aus dem hervorgeht, dass er Verwaltungsangestellter war und auch in Obermenzing, ganz in der Nähe des Karwinkel lebte.
Ich erinnere mich, dass mir mein Vater einmal an einem Abend, nachdem Konrad mit seiner Familie auf Besuch gewesen war, erzählte, dass Konrad eine Rolle beim Pumuckl-Hörspiel hatte und ich es gar nicht fassen konnte, so eine Berühmtheit zu kennen. Und dann auch noch Pumuckl! Ich war ein großer Fan und hatte einige Schallplatten, die ich wiederholt und regelmäßig hörte. Ich erinnere mich, dass ich alle Schallplatten-Covers abgepaust habe.

Ich hatte Konrad in einem ganz normalen Beruf vermutet, und in meiner Welt dürfte das ein Buchhalter gewesen sein, also nicht weit weg von dem Verwaltungsangestellten, der er ja anscheinend hauptberuflich war. Das Archiv des Bayerischen Rundfunk kennt keinen Konrad Kiesl, also täuscht mich meine Erinnerung vielleicht und ich erinnere mich an einen Besuch von Alfred Pongratz, des „ersten“ Herrn Eder, der ein Freund der Familie war. Mit jedem Erinnern wandeln sich die Erinnerungen, also weiß ich nicht, was die Wahrheit ist.
Und da sind wir dann zusammen auf einem Bild, am 75. Geburtstag meiner Oma Luisl, hier die zweite von rechts. Konrad hat es in die Mitte des Bildes geschafft und lächelt etwas milder im zivilen Alter und direkt links davon spitze ich ins Foto, 13 Jahre bin ich da alt. Ich erinnere mich, dass ich mich in seiner Gegenwart sehr wohl gefühlt habe, er war mir auch zugewandt und fragte mich auch mal was, immer mit freundlichem Interesse.
