Das müsste das erste Foto vom Obermenzinger Haus sein. Man sieht wie weit und unbebaut das Land drumherum noch ist, und der Garten, genau der Karwinkelgarten, um den es hier immer wieder geht, ist noch mehr oder weniger unbepflanzt. Obermenzing ist zu diesem Zeitpunkt noch vor der Stadt, es wird 1938 eingemeindet und dieses Foto ist wohl bald nach dem Umzug entstanden, also Anfang der 30er Jahre.

Was mir noch bekannt ist, ist dieses wunderschöne Balkongeländer, von dem man allerdings zu meiner Kinderzeit nicht mehr die ursprüngliche Farbe erkennen konnte. Das kleine halbrunde Speicherfenster steht heute in dem Haus, das im Kuseler Musikantenland nun das Karwinkel ersetzt, an ein Wintergartenfenster gelehnt. Es war eines der letzten Teile, das wir beim Ausräumen des Karwinkel dann doch noch ins Auto gepackt haben. „Dann doch noch ins Auto packen“ war allerdings eine sehr häufige Entscheidung damals.
Als August und Luise im Mai 1935 das Haus kaufen, wohnten sie schon dort, wie sich aus dem Vertrag herauslesen lässt. Die Straße hieß Oberprillerstraße und die Hausnummer war die 72, später hieß sie Bürgermeister-Oberprillerstraße. Der war ein Nazi, deswegen wurde die Straße 1946 dem harmlosen Botaniker Karwinski gewidmet, der im Auftrag der Bayerischen Staatssammlungen Pflanzen sammelte und vielleicht mithalf, den Botanischen Garten zu bestücken. Das würde wenigstens einen dünnen Bezug zu Obermenzing herstellen. Die Hausnummernvergabe wurde dann später vereinheitlicht und damit wurde aus der 72 eine 5.

Für die an juristischen Formulierungen interessierten hier der gesamte Vertrag. Beim Verkauf des Hauses hatte ich diesen Vertrag mitgebracht und die dort – in der Brienner Straße übrigens – anwesenden Experten waren erstaunt, wie wenig sich die Sprache in 80 Jahren geändert hatte.





Aus dieser allerersten Zeit des Karwinkel gibt es nur wenige Bilder. Links präsentieren sich mein Vater Otti, vielleicht fünf Jahre alt und seine Oma Annie, Luises Mutter, vor der ersten Version des Geschäfts. Der geschätzte Kunde muss noch mehrere Stufen überwinden, um die Ladentüre öffnen zu können; ich kann das Geräusch der Klingel hören. Ein einziges großes Fenster dient der Präsentation der Ware, ich erkenne eine schön geschwungene „2“ auf einem handgemalten Preisschildchen. Auf dem rechten Bild der Garten mit den ersten Bäumen und die Rückseite des Hauses ohne direkten Zugang zum Garten mit einem noch kleineren Otti.


Schon bald erweitern sie den einfachen Grundriss des Hauses gleich in zwei Richtungen: Nach hinten wird mit einem quer gesetzten Dachgiebel ein neuer Raum, das neue Wohnzimmer, angesetzt, der sich mit einer Tür und zwei seitlichen Fenstern zum Garten hin öffnet, darüber ein Schlafzimmer, das ich nur als Schlafzimmer meiner Eltern kenne, wer da früher drin geschlafen hat, weiß ich gar nicht. Gleichzeitig wird, von vorne gesehen, das Haus nach rechts erweitert, so das der Laden deutlich mehr Platz hat und zwei große Schaufenster vorzuweisen hat. Auf der Rückseite gibt das eine Garage, eine Art Schuppen und oben zwei neue Zimmer.



Okay, das sind jetzt nicht die schönsten Bilder, dafür mal die Gesamtschau.
Bei Luftangriffen auf München am 19. und 20. 09. 1942, laut wikipedia mit 149 Toten und 413 Verletzten, erwischt es auch den Karwinkel:

Da muss es ganz schön gescheppert haben. Mich faszinieren die alltäglichen Vorgänge, die mit solchen Schreckensereignissen verbunden sind. Da macht man eine Meldung bei der Polizei über den Schaden, ist da etwa eine Versicherung dafür aufgekommen? Stand da dann ganz Obermenzing Schlange vor dem Polizeirevier?
Ich erinnere mich daran, dass im Wohnzimmer der Großeltern an der Decke der Putz unregelmäßig war und man einen großen Kreis erkennen konnte. Auf meine Frage hin, was das sei, bekam ich ein lapidares „Da ist mal eine Bombe hineingefallen im Krieg“, als wäre es das Normalste auf der Welt.
Vom ersten Haus bis zur letzten Erweiterung des Geschäfts haben meine Großeltern Postkarten drucken lassen, bei denen entweder die Blutenburg, Obermenzings bedeutendste Sehenswürdigkeit oder gleich ganz München das Haus und damit den Textilwarenverkauf unterstützen sollten. Links, wie wir schon wissen, die Urversion und rechts die letzte Erweiterung mit jetzt 4 großen Schaufenstern und dem Eingang in der Mitte mit nur einer Stufe, um dem Kunden den Weg hinein zu erleichtern. Links das Glashaus, das den Eingang ins Haus geschützt hat, die Ecke, an der sich auch einige meiner psychoanalytischen Hellträume abspielten. So kenne ich den Laden und so diente er, nachdem das Geschäft Anfang der 70er Jahre endgültig geschlossen worden war, bis 2014 den verschiedensten Untermietern als Büro, Geschäft oder Lager.


Hinterm Haus wird die lange noch nicht gepflasterte Terrasse direkt vor der Türe zum Garten der Ort, an dem die Bewohner des Hauses und gerne auch die Gäste zusammenkommen. Hier ist es Luise mit Mutter und Schwiegermutter, Otti und noch ein anderer Junge, vielleicht starten sie ein Geburtstagsfest und das Interessante auf dem Tisch ist ein Geschenk? Diese Tischdecke hat bis heute überlebt, ich benutze sie noch manchmal.

Die Türe und das malerische Rankgitter dienen als Hintergrund für ein Familienporträt:


Hier sieht man im Hintergrund die kleine, dreistufige Treppe aus dunkelroten Ziegelsteinen, die es in einem nostalgischen Moment geschafft hat, zum Motiv meiner fotografischen Experimente zu werden
Ich bin auf diesem Grundstück aufgewachsen, ein Großteil meiner Erinnerungen stammt aus der Zeit, als wir schon in den neuen Anbau umgezogen waren, der sich an der Rückseite des Geschäfts anschloss und dessen Entstehung sich ein paar Jahre hinzog. Den Teil des Hauses, zu dem man durch diese Türe gelangte, war nach unserem Umzug Omas und Opas Wohnung. Der Garten, der auf dem ersten Bild noch kaum bewachsen war, zeigte sich mir als Kind mit Obstbäumen, die so alt wirkten, als hätte es sie schon immer gegeben, eine unerklärliche Steinplatte zeugte von einem kleinen, vergessenen Teich, und das Alpinum, also ein aufgeschichteter Steinhaufen mit dazwischen gesetzten speziell zu diesem Zweck ausgesuchten Pflanzen, war von verschiedensten Büschen und Bäumen überwuchert, so dass ich nur mit archäologischem Eifer noch ein paar Steine ausgraben konnte. Die Vergangenheit zu entdecken hat damals schon meinen Forschergeist geweckt, stelle ich grade fest.

Wozu die in den Boden eingelassenen Löcher, die mit auch aus Stein gegossenen Deckeln versehen waren, mal gedient hatten, war mir lange ein Rätsel. Die Deckel hatten je zwei Löcher, breit genug, dass man mit den Fingern hineingreifen und so den Deckel anheben konnte. Als Werkzeuge, mit denen man unter die Oberfläche dringen kann, haben sie es zum Logo dieser Seite geschafft.
Aber „in Wirklichkeit“, allerdings vor meiner Zeit, dienten diese Löcher dazu, Pfosten aufzunehmen, an denen man Wäscheleinen anbringen konnte. Hier ist ein schönes Bild von meiner Uroma Annie mit dem kleinen Peterle und einem Hund, umrahmt von weißer, in der Sonne leuchtender Wäsche. Und die ist an eben diesen Pfosten befestigt.
