Im Verzeichnis der Personalstands der königlich-bayerischen Technischen Hochschule in München ist für das Sommersemester 1904 ein in Metz geborener August Fattler fürs Maschinenbau-Ingenieurs-Studium eingeschrieben. Da ist er also, Liselottes Vater. Seine Schwester Maria, meine Oma Jaja, ist auch in Metz geboren. Das ist leider kein Hinweis auf meine elegante französische Herkunft, sondern sie waren Verwandte eines deutschen, dort nach 1870/71 eingesetzten Zollbeamten.
Auf Anchestry werde ich auf eine Hochzeit im Jahre 1911 hingewiesen, in der ein August Fattler eine Mathilde Kotzerke heiratet, und zwar in New York. Ich habe ein Foto von Augusts und Mathildes Grabstein, leider weiß ich nicht, wo der Friedhof ist, dort ist Kotzerke als ihr Geburtsname eingemeißelt, also waren sie das New Yorker Hochzeitspaar. Ich habe einen Vermerk gefunden, dass August bei Ford gearbeitet hat (* Werner, S. 238), vielleicht war das in dieser Zeit gewesen. Das erklärt, warum Mathilde und Liselotte auf ihrer Amerika-Reise bei den verschiedensten Bekannten, vielleicht auch Verwandten, auf Besuch waren.
Aus dem Jahr 1912 gibt es Fotos, die Augusts und Mathildes Zuhause in Mannheim-Feudenheim zeigen. Oben links sitzt Mathilde im neueingerichteten Schlafzimmer, der Kleiderschrank am Bildrand ist mit Liselotte nach Miltenberg gewandert, wo sie später als Lehrerin gelebt hat. Dort haben wir ihn nach ihrem Tod aus ihrem Abstellraum gerettet und ihn zurück nach Mannheim gebracht, wo er in unserem Zuhause seine Rundreise vollendet hat.
Ich bin mal nach Feudenheim geradelt, um das Haus zu suchen und habe es dort in fast unverändertem Zustand vorgefunden.



August war hier vermutlich bei der Benz & Cie., Rheinische Automobil- und Motoren-Fabrik AG angestellt. In den Passagierlisten des Dampfers Deutschland ist für Mathilde und Liselotte Mannheim als Wohnort verzeichnet, sie lebten also noch 1929 dort.
1930 sind sie dann in Berlin verzeichnet, wo August im Handelsregister als „KP“ der Benz & Cie. Rheinische Automobil. und Motoren-Fabrik Aktiengesellschaft 1916, Sitz Mannheim. Zweign. Berlin verzeichnet ist. Ca. 1935 sind die Fattlers dann in München zu finden und wohnen dort in Schwabing, Hohenzollernplatz 1, wie Maria schreibt:
„Ich will noch nachtragen, dass wir anschließend an Heilbrunn eine Woche in München waren, wo Onkel August, Tante Mathilde mit Liselotte in Schwabing, Hohenzollernplatz 1, wohnen. Sie waren alle 3 recht nett und lieb zu uns, was uns besonders an Onkel August auffiel. Jeden Sonntag schon kam er uns mit seinem Wagen von München aus in Heilbrunn besuchen und fuhr uns in die Berge.“
Oma Jajas Büchlein für Mariannchen
Dann finde ich ihn erst wieder in Eisenach, wo er 1937 bei BMW als Werksdirektor für den KfZ-Bau eingesetzt wurde. Quelle dafür ist ein Buch von Constanze Werner mit dem sprechenden Titel: Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit bei BMW. Dort heißt es:
„Der eigentliche Produktionsfachmann saß mit August Fattler im Eisenacher Stammwerk, wohin er 1937 … wie Friz zur Beendigung der Dauerführungskrise und zur Restrukturiereung der Fertigung beordert worden war. Fattler hatte vorher insgesamt 15 Jahre als Ingenieur bei Ford und anderen amerikanischen Automobilfirmen gearbeitet und brachte eine reiche Erfahrung über moderne Großserienfertigungstechnologie mit. Er wäre mit Sicherheit der weit geeignetere Mann gewesen …“
Werner, S. 238
1938, als sein Schwager Burghard (also mein Großvater), der schon 1932 in die NAZI-Partei eingetreten war, seine Stelle bei einer jüdischen Bank verliert (dazu schreibt Maria ausführlich: Oma Jajas Büchlein für Mariannchen), vermittelt August ihm eine Stelle bei BMW: „Und es [das Jahr 1938] brachte noch viele Enttäuschung, nach 188 Absagen, nach mancher Niedergeschlagenheit endlich durch Onkel August eine zusagende Stellung in München bei den Bayerischen Motoren Werken.“, schreibt Maria.
Die gesamte Nazi-Zeit hindurch ist August oberster Chef des Eisenacher Werks, Werner schreibt:
„Der Einsatz von KZ-Häftlingen bekam durch die seit Jahresende 1944 betriebene Untertageverlagerungen noch einmal eine neue grausame Dimension, bei der sich Friz und Fattler als zuständige Werksleiter ohne Rücksicht auf die Häftlinge noch einmal besonders aktiv hervortaten.“
Werner, S. 262
Ihre Beschreibungen der Situation lassen August Fattler als einen Top-Manager erscheinen, dem die Effizienz der Produktion über alles geht, auch über Menschenleben. Er hat in den USA neue Produktionsmethoden kennengelernt und mit unternehmerischem und technokratischem Elan versucht, das in Deutschland einzuführen und dabei jegliches Maß verloren. Ich sehe hier nichts von Nazi-Ideologie, nicht einmal Untertanengehorsam, nur einen zur Empathie unfähigen Mann.

Vor diesem Hintergrund fängt dieses Bild an, vor Absurdität zu schreien. Vorne knien zwei Frauen in der Wiese, die linke ist Liselotte. Sie pflücken Blumen, wie man sich das für kleine deutsche Mädchen in dieser Zeit so vorstellt; nur sind die beiden keine BDM-Mädels, sondern erwachsene Frauen, Liselotte jedenfalls scheint sich dieser Diskrepanz bewusst zu sein, begeistert schaut sie nicht drein. Hinter den beiden Frauen steht Liselottes Cousin Hans, der im September 1942 „im Osten den Heldentod für sein geliebtes Vaterland“ sterben wird, wie es in seiner Todesanzeige heißt. Liselotte ist Jahrgang 1912, Hans ein Jahr älter, ich würde dieses Bild auf die späten 30er Jahre datieren, also vermutlich schon in den Eisenacher Jahren. Hans hat einen Blumenstrauß in der Hand und blickt – ich muss es leider so sagen -, etwas dümmlich in die Gegend. Hinten links steht August, das mürrische Gesicht unterm Hut hervorlugend, in jeder Hand hält er ziemlich ratlos eine Margerite. Das ist der Mann, der KZ-Häftlinge quält, um die Produktivitätszahlen seiner Firma in den grünen Bereich zu bringen.
Ich lese immer wieder Berichte von Kindern und Enkelinnen, die, wenn sie von der Involvierung ihrer Eltern oder Großeltern in die Gräueltaten der Nazi-Zeit erfahren, das mit dem netten Opa, den sie erlebt haben, nicht zusammenbringen können. Ich habe August Fattler nicht gekannt, er ist 7 Jahre vor meiner Geburt gestorben, aber ich kann den scharfen Bruch nachvollziehen, den viele meiner Altersgenossen und extremer noch die Generation meiner Eltern, empfinden müssen.
Meine Mutter hat mir berichtet, dass sie 1943 oder 1944 mehrere Monate in Eisenach verbrachte, als eine Art Landverschickung aus München raus. Tante Mathilde habe sie „Hexi“ genannt (jetzt weiß ich, wo der Name einer ihrer Katzen herkam), der Tante sei auch „gerne mal die Hand ausgerutscht“, das sei aber nicht so schlimm gewesen, weil sie sich, schon bevor meine Mutter die Treppe hinaufgeflohen war, wieder wortreich entschuldigt habe und mit einem „gell, wir sind wieder gut“ um Vergessen gebeten habe. Sie habe es auch verdient gehabt, weil sie, anstatt der Tante zu helfen, sich gerne davongeschlichen habe, um auf einen Baum zu klettern und dort versteckt Karl-May-Romane zu lesen. Die Cousinen, also meine Mutter Marianne und Tante Liselotte waren 16 Jahre auseinander, also als Spielkameradinnen wohl nicht geeignet.
Über das Kriegsende in Eisenach schreibt Werner:
„In Eisenach hielten zunächst nach dem Einmarsch der amerikanischen Truppen die beiden Werksleiter Friz und Fattler die Stellung und auch der noch amtierende BMW-Vorstandsvorsitzende Schaaf befand sich vor Ort. Insbesondere Fattler bemühte sich nach den ersten Besichtigungs-, Informations- und Befragungsaktionen durch die US-Militärs um eine rasche Wiederaufnahme der Produktion. […]“
Werner, S. 350
Das spricht meiner Meinung nach für meine Theorie, dass es August um die Funktionstüchtigkeit der Firma ging; er switcht ohne Unterbrechung von Verhandlungen mit den Nazis zu Gesprächen mit den Amerikanern. Er beschwert sich darüber, dass die amerikanischen Soldaten Werkzeuge requirieren und sie dadurch „im Wiederanlauf empfindlich gestört werden“ (Werner, S. 350). Aus dem Tritt bringt August erst die Übernahme des Werks durch die Rote Armee, als Thüringen an die russische Besetzungsmacht übergeben wird:
„…ob sich Fattler tatsächlich gegenüber dem inzwischen konstituierten, aber weitgehend machtlosen Arbeiterausschuss mit den Worten verabschiedete: ‚Da habt ihr den Trümmerhaufen, macht damit, was ihr wollt‘, ist nicht gesichert, aber auch nicht unwahrscheinlich, denn den BMW-Direktoren und Managern war klar, das das Werk verloren war und die Werksgruppe Eisenach aufgehört hatte zu existieren.“
Werner, S. 351
Erst als es seiner Firma, genauer der Dependance, deren oberster Chef er acht Jahre lang gewesen war, an den Kragen geht, zeigt er Emotionen.
Ich kenne Tante Liselotte als eine ältere Gymnasiallehrerin, die sich in Miltenberg auf dem Philosophenweg ein Haus mit einer Freundin teilte. Mir schien sie eine typische Lehrerin zu sein, den jungen Menschen immer freundlich zugewandt, aber mit einer gewissen Distanz. Es hieß, ihr Verlobter sei im Krieg gestorben und sie habe danach keinen mehr gewollt. Dadurch war ihr etwas Mädchenhaftes geblieben. Sie hat sich alle 7 Jahre ein neues Auto gekauft, erst immer einen Käfer, später einen VW-Golf (in den 70er Jahren ein ganz modernes Modell in Orange) und das siebenjährige Auto meinen Eltern geschenkt. So kam es, dass mein erstes Auto ein 14-jähriger Käfer war.


verwendete Literatur:
- * Werner, Constanze. Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit bei BMW Im Auftrag von MTU Aero Engines und BMW Group. Oldenbourg Verlag, München 2006