

Meine Schwester konnte als kleines Mädchen den Namen meiner Großmutter Maria nicht aussprechen und nannte sie deswegen „Jaja“ und so hieß sie auch für mich immer so. Das Büchlein, um das es hier geht, habe ich erst nach dem Tod meiner Mutter gefunden, also nachdem die Adressatin des Büchleins selbst gestorben war. Das Buch, eine einfache, schwarz-glänzend eingebundene Kladde fängt als freundliches Erinnerungsbüchlein an, mutiert zu einem Schreckensbild der Erziehungsmethoden der Nazizeit und entwickelt sich zum Ende hinzu einer Art Tagebuch, in dem sie ihre wachsende Vereinsamung dokumentiert.
Das Büchlein enthält keine Fotografien, sie sind von mir hinzugefügt worden. Hier geht’s los:
Dir, mein geliebtes Mariannchen,
gewidmet von Deiner Mutter.
Berlin – Südende
Mai 1928.

Mai 1928.
„Marianne ist da!“
So schrieb d.h. telegraphierte dein Vater am Freitag den 4. Mai morgens die Nachricht von der Ankunft unseres Töchterchens an meine Freundin Mia Claaßen in Dortmund. Nicht allein dahin, sondern an alle lieben Freunde und Verwandten ging die Freudenbotschaft! Und in welcher Form und wie rasch und mit wieviel frohen Worten deine Geburt, mein Liebes, auch mitgeteilt sein worden mag, keiner konnte das doch so innig mitempfinden, und wenn er uns noch so nahesteht, wie froh und glücklich wir sind über deine Ankunft! Du langersehntes, geliebtes kleines Wesen, du unter so vielen Schmerzen Geborenes, Du unser innig geliebtes Kind! Um halb 10 Uhr abends (am 3. Mai 1928) bist du zur Welt gekommen. Als Arzt und Hebammenschwester gegangen waren nach einer knappen Stunde, waren dein Vater und ich zum ersten Mal mit dir alleine, und ich denke so gerne gerade an dies kleine Stündlein zurück, wo ich zum ersten Mal, ohne Fremde um mich zu haben, mich ganz der Freude und des Glückes hingab, nun Mutter dieses süßen Geschöpfchens zu sein, das in dem weißen Korbbettchen zu Fuße meines Bettes stand, unseres Mariannchens! Dein guter Vater, mein geliebter Burghard war zu mir niedergekniet und küsste mich, und ich weiß, dass unsere innigsten Gedanken zusammenschmolzen in Liebe zueinander und zu unserm Kinde, in heißen Wünschen für Gesundheit und glückliches Gedeihen für unsern kleinen Liebling, und nicht zuletzt waren wir beide wohl erfüllt von Dankbarkeit zum Höchsten, der dich, liebes Kind, uns schenkte! –
Die Pflegerin, Frau Arnt, kam noch in derselben Nacht und war 14 Tage da, um dich und mich zu pflegen und zu versorgen, weil ich es selbst noch nicht konnte. Der Wickeltisch, auf dem du zurechtgemacht wurdest, stand am Fenster und nahe meines Bettes. Es entging mir nichts und ich schaute zu dir hin und freute mich stets von neuem an meinem Püppchen. Dein Vater ging an jenem ersten Morgen nicht auf’s Büro und verweilte in jeder freien Minute an deinem Bettchen. Wie glücklich es mich machte zu sehen, wie auch er sich als Vater so glücklich fühlte. Am Vormittag war er persönlich gegangen, um seinen Eltern, dem Großpapa und der Großmama Küsel in Wilmersdorf – Augustastr. 25. – die frohe Nachricht von deiner Geburt zu bringen. Und auch zu meiner Mutter, deiner Großmutter Charlotte Fattler, die mit deinem Onkel Karl zusammen in Friedenau, Baumeisterstr. 8, wohnt, trug dein Väterchen die Freudennachricht selbst. Die Großeltern haben als erste Gratulanten dies Kärtchen geschickt, das ich für dich hier aufgehoben habe. Und Onkel Karl kam auch gleich am Freitagabend und begrüßte dich und uns mit roten Rosen und weißem Flieder. Und ein schönes Geldgeschenk hat der gute Onkel Karl auch noch gebracht, denn er weiß, dass ein Kindchen auch gleich viel Geld kostet und die Zeiten doch recht teuer sind. Ich war tief gerührt von der noblen Art, wie mein guter Bruder Karl uns seine Freude und Anteilnahme an unserm Glück zeigte. Deine Großmama Charlotte wäre so gerne auch gekommen, sie wäre überhaupt gerne dabei gewesen, als du geboren wurdest aber zu ihrem großen Leidwesen war ihr dies alles versagt, denn die Arme ist seit einem schweren Schlaganfall im Januar 1924 auf der rechten Seite gelähmt. Onkel Karl brachte die gute Oma aber nach 14 Tagen im Auto zu uns zur Lacknerstraße, damit sie ihr jüngstes Enkelkindchen auch sehen durfte. Und sie hat sich auch herzlich über dich gefreut, liebes Mariannele! Inzwischen waren schon die Großeltern aus Wilmersdorf da und Tante Frieda und Tante Anna mit Gretchen und so viel andere Leute, die dir Blumen und nette Sächelchen brachten. Und fast jeder, der zu dir in dein Bettchen guckte, sagte: „Es sieht dem Vater ähnlich.“ – Ja, wie solltest Du auch nicht, mein Liebling, sind wir uns doch in inniger Liebe zugetan, und wenn ich an dich, sein Kind dachte, schwebte mir auch gleich sein Bild vor, und wir oft sah ich sein liebes Gesicht im Traume. – Am Himmelfahrtstage, am 17. Mai – verließ uns die Pflegerin, und ich durfte nun alleine alles für dich tun. Ach, und wie gerne tat ich’s! Und mein lieber Burghard stand nebendran, und wir wurden nicht müde, dein liebes Gesichtel zu betrachten. Die großen Äugelchen werden von Tag zu Tag dunkler. Und dich so im Arm und der Brust zu halten, es sind Stunden höchsten Glücks! Der Papa schaut mir dabei oft über die Schulter, hin zu dir, Geliebtes! Und dann kommt es uns nochmals so recht aus dem Herzen, wenn wir dich anreden. „Püppchen, liebes!“ „Du Liebe!“, „Mariannele!“ „Mein süßes Kind!“, „Mein Engelchen, kleines!“ „Du liebe, süße, kleine Maus!“, „Unser kleiner Liebling!“, „Du Süße“, „Mein liebes Kind!“ und es nimmt kein Ende! – Und wenn man alleine ist, ist vielfach die Verinnerlichung dieser schönen Empfindungen reicher und tiefer. Und wie ich auch so glücklich bin, wenn „wir drei!“ beieinander sind, wenn in frühester Morgenstunde dein kleines Stimmchen mich zur Wiege ruft, wie gerne folge ich trotz Schlaf und Müdigkeit der Pflicht, dich in frische Windeln einzupacken und das kleine Schnäbelchen zu stopfen. Dann halt ich dich mit festem Arm an meiner Brust, und so wohlgeborgen liegst du bei mir, schließt die süßen Äugelein und trinkst dich satt. Mit tiefem Atemzug unterbrichst du oft die „schwere Arbeit“, es ist ein Absetzen, und mit einem jähen Augenaufschlag guckst du kleines Menschlein in die Welt und weißt ja noch nicht, dass dich treusorgende Mutterliebe mit größter Innigkeit umfängt, weißt noch nicht, dass jeder Blick auf dich wie ein Gebet ist, der gute Gott möge dich schützen und segnen und dich uns gesund erhalten. „Mein liebes, süßes Mädelchen, du unschuldiges Engelchen! Mein Mariannchen!“ Und Tränen des Glücks treffen deine Wängelein! Oft will sich’s dabei wie heimliche Angst einschleichen, dies große Glück könnt‘ mir nur geliehen sein, dann würd‘ ich wach als ob’s nur von einem so wunderschönen Traum sei. Nein, es ist ja Wirklichkeit! Ich halte mein süßes Kind im Arm und küsse es: Du bist mein! Und dieser liebe, gute Burghard, dein Vater ist mein, und ich bin so von Glück erfüllt! Tränen des Glücks sind es, mein innig geliebtes, süßes, herziges Engelchen, du! –
Ende Mai brachte ich dich zum ersten Mal zum Arzt. Du fühltest dich wohl und gesund, aber weil wir es für gut fanden, unser Kind mal dem Doktor vorzuführen, über Nahrung und Lebensweise für dich zu sprechen, deshalb besuchte ich mit dir Dr. Borchardt, Facharzt für Kinderkrankheiten. Als ein paar Tage später wegen Leibschmerzen du so schriest, verschrieb er Fencheltee und warme Umschläge, die ich aber vorher aus mir selbst schon gemacht hatte. Nach einigen Tagen zeigten sich im Gesichtchen kleine rote Fleckchen wie bei Hitzeausschlag. Es entwickelte sich tatsächlich zu einem Ausschlag. Daraufhin ordnete der Doktor an, die Milch im Fläschchen so zu mischen, dass du 2/3 Haferschleim und 1/3 Milch bekommt. Als Zusatzzucker nur Soxhlet-Zucker. Leider, leider ist mir das große Glück versagt, dich voll und ausschließlich mit Brustmilch zu nähren, und alle heimlichen Tränen und stillen Gebete haben nichts daran geändert. Ich kann dir aber noch gut über die Hälfte geben. Z. B. hast du in der 3. und 4. Woche 120 – 130 Gramm getrunken; davon waren nur 50 Gramm etwa Fläschchen. Es wurde auch besser mit mir! Und in der 5. Und 6. Woche, wo du 140 – 160 gr. zu dir nahmst, waren bei manchen Mahlzeiten auch nur 50 – 60 gr. Fläschchen. Bei einer Tagesmenge von 745 gr. hast du am 2. Juni 420 gr. Muttermilch getrunken. Bei einer Tagesmenge von 720 gr. (am 4. Juni) hast du 410 gr. Muttermilch getrunken. Dabei hast du zugenommen und wogst am 14. Mai 6 Pfund 370 gr. – Am 21. Mai 7 Pfund 10 gr. Am 3. Juni 7 Pfund 170 gr. Am 10. Juni 7 Pfund 310 gr. Sonntags, wenn unser Väterchen nicht aufs Büro braucht, wiegt er dich immer selbst. Wir sind dann immer gespannt auf den nächsten Sonntag, um zu sehen, wieviel du in der Woche zugenommen hast. Auch das Badewännchen füllt dir dein Vater sonntags und leert es wieder aus, auch um mir die Arbeit zu erleichtern. Denn Arbeit bringt solch ein Kindelein ins Haus. Du hast bis heute wenig auf unserer Loggia in deinem Bettchen schlafen können, da sich, trotzdem wir schon Mitte Juni zählen, schönes Sonnenwetter nur selten gezeigt hat. Und windig ist’s auch oft. So haben wir uns entschlossen, einen Wagen für dich zu kaufen, damit wir dich, gut eingepackt, in der frischen Luft draußen herumfahren können.
Am Sonnabend – 9. Juni – kam sein Onkel Karl und holte Papa ab zum Einkauf. Einen ganz wunderschönen Wagen habe sie beide für dich ausgesucht! Stabil und mit Federung, dass du keine Erschütterung beim Fahren spüren sollst. Hellblau ist er, und Du liegst in rosa Kisschen mit rosa Schleifchen und rosa Spitzenhäubchen von Omama Küsel – so lieb in diesem Staatswagen. Onkel Karl und Oma Charlotte haben die Hälfte für den Wagen bezahlt, denn er kostete viel Geld. Für dich, unser süßes Püppchen, ist uns das beste aber gerade gut genug! Wir hatten versprochen, am Sonntagnachmittag dich im Wagen nach Friedenau zu fahren, um unsere Lieben dort zu besuchen. Aber als so graue Gewitterwolken sich zusammenzogen, bogen wir lieber in den nahen Stadtpark ein. Als ich so müde wurde, ruhte ich mich eine Zeitlang auf einer Bank aus und währenddessen fuhr dich dein Väterchen ganz alleine, und ich verfolgte euch stets von meinem Plätzchen aus, bis Ihr zwischen Birkengrün oder Tannendunkel verschwunden seid. Dann kamt ihr mir wieder froh entgegen, Ihr meine zwei teuersten Menschen auf der Welt! Onkel Karl habe ich auch so sehr lieb, und die gute Oma und meine Schwester Luise in Landau, wo dein Onkel Gustav und seine Kinder, deine Vettern, Hans und Helmut und dein Cousinchen Ruth Friedel wohnen, Auch dich haben all diese Lieben schon so lieb, obwohl sie dich noch nicht gesehen haben, nur weil du unser liebes Kindchen bist. –
Am heutigen Sonntag den 17. Juni konnten wir dich im Wagen wieder nicht nach Friedenau fahren, denn es regnet und ist kalt, so kalt, dass wir wieder Feuer in dem Ofen machen mussten! Wir haben noch kaum einen schönen Tag gehabt diesen Sommer.
Heute wogst du 8 Pfund und 70 gr.! – 17.6.28. Am Mittwoch den 20. Juni hob ich dich (so gegen 2 Uhr) auf dem Arm am Fenster; Du schautest in den blauen Himmel hinein, als ob du die etwa 50 Flugmaschinen sehen könntest, die unsere Südender Gegend zum Tempelhofer Flughafen hin überflogen. Um 2.08 Uhr trafen in ihrer Begleitung dort nämlich die Ozeanflieger Köhl, Fitzmaurice und von Hünefeld ein, von Hamburg kommend, wo sie von ihrer Amerika-Heimfahrt auf der Columbus eine Zwischenstation machten. Mit überaus großem Jubel und Begeisterung wurden diese deutschen Flieger, die zum ersten Mal den Atlantischen Ozean von Osten nach Westen überflogen, in der Heimat begrüßt. In einem Triumphzug zogen sie durch Berlin, in einem Meer von Blumen, von Ehrungen überhäuft. Auch unser Reichspräsident von Hindenburg hat sie ausgezeichnet, wie noch kaum jemand von ihm ausgezeichnet worden ist. U. a. wurden sie mit 300 Gästen zu ihm zum Tee geladen und erhielten sein Bild in Silberrahmen mit eigenhändiger Unterschrift. – Vielleicht freut es dich später, liebes Mariannchen, wenn du liest, was ich an Tagesereignissen mit einigen Worten hier festgehalten habe. Ich will nur kurz erwähnen, dass der ital. Major Maddalenas mit seinem Wasserflugzeug am 20. Juni das kleine rote Zelt Nobiles und 5 Schiffsbrüchige seiner Begleitung östlich von Nordestland gefunden hat! Nun wird man sie retten können! Man warf ihm Medikamente, Waffen, Radioakkumulatoren in Fallschirmen zu, ferner Säcke mit Decken und Lebensmitteln. – Vom Nordpolforscher Amundsen, der zur Rettung Nobiles und seiner Truppe ausgeflogen war, hat man schon seit einigen Tagen keine Nachricht und man fürchtet um sein Schicksal. (ist nie wiedergekommen!)
25. Juni 1928.
Mein liebes Mariannchen! Gestern haben wir dich also zu Deiner Großmama Charlotte gefahren! Onkel Karl war schon am frühen Nachmittag gekommen, uns abzuholen. Um 3 Uhr gingen wir mit dir aus dem Hause. Ich stieg aber in die elektrische Bahn ein, weil der Weg zu Fuß für mich noch zu weit und anstrengend ist und ich mich doch noch immer schonen muss. Also dein lieber Papa und Onkel Karl schoben deinen Wagen abwechselnd und sie taten es gerne! Ich war dann schon dort bei meiner lieben Mutter, als sie mit dir ankamen. Sie trugen dich im Wagen die Treppe hinauf damit du in deinem Schläfchen nicht gestört würdest. Du schliefst dann ruhig weiter, du ahnungsloses Wesen wusstest ja nicht, wo du bist. So gegen 6 – das ja „deine Zeit“ – regte es sich denn auch im Wägelchen und wir hörten auch das kleine Stimmchen schon: „Uh-lää! Uh-laa!“ [Es hört sich so an wenigstens und ich habe schon im Spaß behauptet, der Aman-Ulla ist schuld daran, wenn du schreist; auf ihn wird die Schuld geschoben, der uns so unsympathische König von Afghanistan, der sich hier in Berlin feiern ließ und einen Empfang hielt, wie früher ehrenwerte Könige aus uraltem Geschlecht.] Diesmal freute ich mich fast über dein Weinen, denn es war für mich das Zeichen, dich jetzt herüberholen zu dürfen. Und wie gerne zeigte ich dich der Oma! „Du Liebes!!“ „Puppele“ „Ja, gleich bekommst du was!“ Und jetzt schauen 4 Augenpaare auf dich kleines Menschlein, in Liebe und Bewunderung. „Du liebe, süße kleine Maus! Mariannele! Du unser geliebtes Kindelein! Herzele! Goldiges!“
„Es hat so liebe, große Äugelchen“ sagt Oma, und „es ist so drollig!“ meint Onkel Karl, „die dicken Bäckchen“ und „die lieben, kleinen Fingerle!“ Ich muss so oft an Victor Hugo’s „Lorsque l’enfant parait“ denken. Heute verstehe ich seine Verse besser, wenn er sagt „Son doux regard qui brille fait briller tous les yeux“ ja, noch tausendmal schönes ist’s, wenn wir unser Kindelein betrachten!
29. Juni. Nichts hat sich inzwischen ereignet, aber ich könnte nicht müde werden von unserem süßen, kleinen Liebling zu erzählen. Wie oft des Tags über schaue ich in dein Bettchen, wenn du schläfst und wache über dich! Da liegst du in süßer Ruh, dein kleines Däumchen im Munde, du süßer Engel, du! Und ich schaue auf dich wie im Gebet: Mög‘ Gott dich schützen und dich uns gesund erhalten, du uns vom Himmel Geschenktes! Du liebes, geliebtes Mariannchen! Dein Bettchen steht unter dem Kreuz, und das Madonnenbild darunter hat mir dein Vater zum ersten Geburtstag unserer Ehe geschenkt. Ist’s ein Zufall, dass unser Liebstes gerade darunter steht? Möge die Mutter Jesu dich in ihren Schutz nehmen, möge dein Heiland stets in dir sein, mein Kind!
11. Juli 1928.
Heute hast du 8 Pfund und 300 gr. gewogen, also mit 8 Wochen, 2 Tagen!
Am 7. Juli hast du zum ersten Mal Spinat gegessen und heute am 11. Juli Mohrrübchen! Dr. Borchardt meint absolut, ein Kind solcher Körperkonstitution muss schon Gemüse vertragen. Die Kinder blühen auf und werden kräftig. – Geb‘ es Gott! –
Das war gewiss kein Vergnügen, nicht für dich und für mich, dies erste Spinatessen! Solch kleines Mündchen kann doch noch nichts anderes als Flüssigkeit schlucken und muss anderes Schlucken erst lernen. Das war aber ein Weinen und Spucken und Zappeln und Fuchteln mit den Händchen! Lieber hättest du ja dein Däumchen genommen, gelt, mein Liebling! Es gelang mir doch, ungefähr 3 Teelöffel voll dir so einzuflößen. Am Sonntag ging’s schon besser damit. Da hat Papa auch die kleinen Händchen gehalten. Und einmal hast du dabei genießt und sein Kragen und alles in nächster Umgebung war mit grünen Fleckchen verspritzt. Du armes Dingelchen! Aller Anfang ist schwer, so auch’s Spinatessen und muss gelernt sein, gelt, du kleiner Liebling!
Nun wiegst du schon 9 Pfund 100 gr.
Heute am 14. Juli.
Am heutigen Sonntag den 22. Juli 1928 wurdest du, unser geliebtes Kindelein, in der Rosenkranz Kirche in Steglitz, Kielerstraße, getauft. Marianne! Mathilde! Maria Anna sind die beiden Namen, die auch ich erhielt. Maria als Rufname, Anna nach meiner Großmutter mütterlicher Seite (Maria Anna Gelger) d. h. Anna Brittinger geborene Gelger. Ihr Grab ist in Falkenstein, wo sie im Jahre 1856 schon beerdigt wurde als deine Oma Charlotte noch ein kleines Kindchen war, kaum 4 Wochen alt. So lernte deine Oma die Liebe einer Mutter nie kennen, im Gegenteil, sie hatte bei einer Stiefmutter sehr viel unter Schlägen und überstrenger Behandlung zu leiden und hatte eine sehr harte Jugend. Sie selbst aber ist später eine so gute, gute Mutter geworden, die wir Kinder alle innig lieben, weil sie eben seit dem frühen Tode unseres guten Vaters im August 1902 nur ausschließlich für uns Kinder gelebt, gespart, gearbeitet und gesorgt hat. Unsere liebe, gute Mutter! Aber ich wollte doch von deiner Taufe schreiben: Onkel Karl ging mit zur Kirche. Um 3 Uhr war die Taufe angesagt. Er holte uns erst hier ab. Ich habe dich so nett herausgeputzt mit einem langen weißen Batistkleidchen mit rosa ausgeschlagen, eine dicke rosa Schleife vorn an der Seite, das rosa Spitzenhäubchen von Oma Helene, und ein goldenes Kettchen mit Kreuzchen um, dass dir Oma Charlotte zur Taufe geschenkt. Aus einem Kisschen, das rosa überzogen und unter einem hübschen Feinleinenüberzug mit echten Filetspitzen hindurchschimmerte, so zart und weich, trug ich dich, du selbst ein rosa Röschen! Im Auto fuhren wir hin. Der Pfarrer Dr. Strehler taufte dich. Wunderschön und tief ist der Sinn all der symbolischen Handlungen während der Spende dieses Sakramentes in der katholischen Kirche. Ich hoffe und wünsche mir so von Herzen, dass du, mein liebes Kind, später mit Verstand und Herz das Wesen der heiligen Liturgie erfassen wirst, dass überhaupt das Bekenntnis zu dieser christlichen Kirche dir in deinem späteren Leben zum Segen werde. Mögest du in den ernsten Stunden des Lebens, die ja auch für dich, liebes Mariannchen, nicht ausbleiben werden, Halt und Trost im Glauben finden, mögest du dich an dem christlichen Glauben in allen schweren Lebenslagen halten und aufrichten können, möge er dich lehren, deinen Gott stets in dir zu tragen, im Leben nur immer das Gute zu wollen und einst im Sterben deine Seele zur ewigen Vereinigung mit Gott hinzuführen! – ich will mich hier nicht weiter über Bekenntnislehren verlieren, werde ich doch später, wenn du älter bist über all dies mich mit dir unterhalten können, anfangs dich leitend und führend, deine Gedanken ordnend, später gemeinsam mit dir das Gute erstreben, im Denken und Handeln. Dein lieber guter Vater wird dir ebenso gerne darin ein treuer Führer sein wollen –
Dein Großpapa kam Freitag von Wien zurück, wo er das bedeutungsvolle Fest der deutschen Sänger mitbeging.
Am 3. September „hatten wir Geburtstag“! Du wurdest 4 Monate alt, und 2 Tage zuvor entdeckte ich dein erstes Zähnchen! Du liebe, süße Goldemaus, wie froh wir darüber waren! So lieb und brav bist du doch dabei gewesen, also ob das Durchstoßen dir nicht wehe getan. Nun liegst du meist da, nicht mehr mit nur dem Däumchen, sondern alle Fingerle hast du auf ein Mal im Mund. Aber freundlich und lieb bist du stets! Und wer nur immer zu dir in dein Bettchen schaut, sieht dein liebes Gesichtel und ein freundliches Lächeln. Letzten Sonnabend hast du mir Sorgen gemacht: Mitten im Schlafen setzte dein Stimmchen mit einem plötzlichen Weinen ein, das immer lauter und klagender wurde und schließlich zu einem schmerzvollen Schreien anwuchs. Ich tat, was ich mir dachte, was dir Linderung verschaffen könnte: Trug dich herum, aber das Schreien hörte nicht auf. Ob’s wohl Leibschmerzen sind? So rieb ich das kleine Leibchen mit warmem Öl in Uhrzeigerrichtung. Aber es half nichts. Fast 2 Stunden ging dein Weinen, fort und fort. Ich lief in meiner Aufregung zum Arzt. Aber er war nicht zu Hause. Als ich zurück war, hörte ich dich schon auf der Treppe. Du schriest noch!
Von einem Arm nahm ich dich in den andern. Dann legte ich dich aufs große Bett, immer noch ratlos. Das arme Dingelchen ist ganz erschöpft. Endlich eine kleine Pause. Und so von Zeit zu Zeit. So schriest du dich endlich in den Schlaf, müde und ganz erschöpft vom Schreien. Das waren Stunden für mich. Man leidet mit. Wenn’s nicht dieselben Schmerzen sind, so sind’s halt andere. Aber der Mutter tut es weh. –
Ich habe lange nicht geschrieben. Inzwischen waren Tante Luise (meine Schwester) mit Onkel Gustav und Ruthchen da. Sie trafen am 9. August hier ein zu einem zweiwöchentlichen Besuch. Leider wurde am 2. Tage Oma krank und alles verlief anders wie ausgedacht. Wir haben nicht viel voneinander gehabt. –
Ende September 1928!
3. Januar 1929
Mein geliebtes Kind!
Heute bist du gerade 8 Monate alt, doch nicht deshalb, sondern weil ich endlich mal wieder ein freies Stündchen für dein Buch habe, will ich dir ein paar Worte niederschreiben.
Ich hatte ja all die Wochen hindurch so wenig Zeit, weil eben, ein Kind zu versorgen, es richtig und sorgfältig zu pflegen recht viel Zeit wegnimmt. 5 Mahlzeiten am Tage wozu je eine Stunde – mit Bad noch mehr – nötig ist, = sind 5 Stunden am Tage! Bei gutem Wetter. Ausfahrt so 2 – 3 Stunden, was bleibt dann noch übrig? Eine Frau kommt mir so immer noch jeden zweiten Tag ein paar Stunden helfen. Und müde geht man doch abends zu Bett und müde steht man morgens auf. Aber alldessen ungeachtet die Freude und das Glück, dich zu besitzen, überstrahlt alles! Nun bist du schon „groß“ im Vergleich zu den ersten Monaten. Alle Tage haben wir an dir beobachtet, und wissen heute doch nicht, wie’s kam, dass du so verständig schaust, dass du sicher greifen und herzhaft lachen kannst. Mit dem Sitzen geht‘s allerdings noch wackelig. Neulich bist du aus deiner sitzenden Haltung umgefallen. Dieses erstaunte Gesichtchen zuerst! Dann hast du wieder gelacht. So lieb und freundlich und stets lächelnd und voll Freude bist du, liebes Mariannchen, jeder, der dich anschaut bekommt ein frohes Gesichtel gezeigt und muss auch dir entgegen lachen. Nein, so sind die kleinen Püppchen gewiss nicht alle, und so haben wir dich nochmal so lieb. Du unser ganzes Glück! Du einzig geliebtes Kindelein! Sonderbar, dass du seit deinen 2 Beißerchen im 4. Monat kein neues Zähnchen mehr dazubekommen hast. Aber du bist gesund und kräftig und froh und voll Lebendigkeit, und das alles sind Zeichen von Gesundheit. Früh morgens vor 6 Uhr schon hören wir dein Erwachen und dein süßes Stimmchen, das immer in zarter Steigerung sich lauter vernehmen lässt, bis es jauchzende Jubelschreie sind! Dei-dei-dei, dei-dei-dei deideidei! Heida, deida, da-da! Dadada! Bababa-pababa, Papa??? Ja, in den nächsten Tagen muss es wohl deutlich werden: Papa! Diese Freude! Dieses Glück!
Am Weihnachtsbaum 1928/29 brannten die strahlenden Lichtchen. Ich saß in unserem neuen Klubsessel, den dein lieber Papa uns beiden zum Geschenk kaufte, du im Festkleidchen; und unser: „Schau‘ mal, die schönen Lichtchen!“ klang für dich so gleichgültig! Ja, deine Äugelchen wurden nicht heller als sonst, du schautest dran vorbei! Und der neue grüne Wecker, den Oma deinem lieben Papa geschenkt, war für dich viel interessanter als der Weihnachtsbaum. Da konntest du mit dem Fingerle so auf dem Glas überm Zifferblatt herumtippen, das war schön, gelt! Du süße Maus! Du Golde-Engele! Am ersten Feiertag waren wir bei Oma und Onkel Karl in der Baumeisterstraße mit dir; am Sonntag drauf waren wir bei den Großeltern in Wilmersdorf mit dir; am Neujahrstag wieder in Friedenau! Immer wo du hinkamst war große Freude um dich, du Liebes! Besonders deiner Oma Charlotte, die alt und schwach ist, machst du mit deinem Besuch große Freude. Dann lebt sie nochmal auf, wenn sie in dein liebes Gesichtel schaut; und an deinem frohen Lachen und deinem süßen Stimmchen kann sie sich nochmal innig freuen! Aber wenn wir dann abends wieder daheim sind, sagst auch du „Daheim ist’s doch am schönsten. Da lieg ich in meinem gewohnten Bettchen und kann ungestört strampeln, ohne dass einer mich immer anguckt“, so wie’s auf diesen Bildchen gemalt ist, die dein Opa für uns aus der Zeitung geschnitten hat. Hier lege ich sie ein. Vielleicht freust du dich später noch daran. –
Am zweiten Weihnachtsfeiertag am 26. Dezember 1928 wurde in Dortmund die kleine Christa Sofie Claasßen geboren. Du weißt, dass ihre Mutter meine beste Freundin ist, und ich wünsche, dass du, geliebtes Mariannchen mit Christa ebensolch innige Freundschaf pflegen wirst! Das wird dich um manch schöne Stunde im Leben reicher machen! >

14. Februar 1929.
Mein geliebtes Mariannchen! Ich durchlebe trübe Tage. Sie gelten meinem lieben, alten totkranken Mütterlein. Ach, wie weh ist mir, wenn ich die Leiden unserer guten Mutter bedenke. Körperlich ist sie gebrochen, aber es geht immerhin noch. Die Nächte sind schlimm und qualvoll für sie. Wir haben eine Nachtschwester, weil dein Onkel Karl es einfach nicht mehr kann, er hat längst weit über seine Kräfte getan und seine Nachtruhen gegeben. Um 4 Uhr früh will die gute Mutter und muss sie schon aufstehen, weil ihr keine Ruhe mehr im Bett vergönnt ist. Kaum sitzt sie in Kissen und Decken gepackt in ihrem großen Stuhl und stöhnt und ist müde. – Müde! Die Arme. Wieviel größer sind ihre seelischen Qualen! Sie hängt so sehr an ihren Kindern und der Sorge um sie. Nur für uns hat sie ihr ganzes Leben gelebt. Immer nur an ihre Kinder hat sie in endloser Liebe gedacht. Und nun, obwohl wir tun, was wir können, nun fühlt sie sich allein. Sie rang es neulich hervor, als ich bei ihr allein neben ihr saß: „Karl muss auf’s Büro. Luise kam nicht ————————von ——————————-ihren Kindern ————————————————– weg. ——————————————–Du musst ———————————-auch ———————————- bei ——————————-deinem Kind ———————————bleiben. ————————–Und ——————————ich ———–muss ——————————————————-sterben!
Welches Weh! Oh, wie weh das tut! Und so ist das Leben und Sterben, so hart! Nie, nie, im ganzen Leben nie kann ein Kind genug für seine Mutter tun, besonders eine solch selbstlose, gute Mutter, wie wir eine hatten. Das Bitterste muss sie nun allein durchkämpfen. O Mariannchen, mein Schmerz ist so groß und ich bin unglücklich, weil ich doch nicht helfen kann. Man sucht die Mutter abzulenken. Aber innerlich sagt man sich, sie sollte sich aussprechen können, das erleichtert. Es ist die heilige Fastenzeit, und so verlangte Mama nach dem Priester. Es fällt nicht auf. ——- Ich erzählte der lieben Oma „Klein-Mariannchen liegt daheim in seinem Bettchen und schläft. Und wenn es wach wird, nimmt‘s sein Däumchen und strampelt dazu und ist lieb und artig, bis ich komme“. Da hat sie wieder geweint, die gute Oma, denn sie hängt auch an dir schon, du kleines Wesen, das du noch nicht ahnen kannst durch welches Leid wir hindurchmüssen. —– —- —- – – – – – – —
12. April 1929
Viele Wochen sind vergangen seit ich zuletzt für dich geschrieben, mein Kind. Zum Niederschreiben des nun Geschehenen aber war ich nicht gefasst genug und ich weiß nicht, ob ich es während des Schreibens sein kann, denn all das Traurige der letzten Wochen lebt noch so stark in mir, dass es mich stündlich mit seinen Gedanken beherrscht.
Am 24. Februar abends 8 Uhr ist unser geliebtes, gutes Mütterlein in die ewige Ruhe eingegangen. Es war ein Sonntag. Am Donnerstag den 21. Februar hat sie die heiligen Sterbesakramente empfangen. Ich kam am Nachmittag (nach 2 Uhr) gerade dazu, als der Priester ging. Als ich in Mamas Zimmer kam, lag sie da wie eine Heilige. Der Ausdruck ihres Gesichtes war so verklärt und schön. Aufgeregt war sie, und ihre Wangen leuchteten rot. Sie schaute mich groß an: „Maria – ich – Kommunion Kommunion! – ich, die ganze Nacht. Kommunion.“ – Ich ergänzte und frage: Gelt, du hast die ganze Nacht nach der hl. Kommunion verlangt und hast nicht getraut, davon zu sprechen? „Ja, ich die ganze Nacht Kommunion.“ Das wiederholte und wiederholte sie und war in einer überirdischen Seligkeit. Ich beugte mich über sie und küsste ihre Stirne „Ja Mutterle, nun bist du froh, gelt. Nun wird alles gut!“ „Ja, ich bin so froh!“ Und diesmal beugte sich Karl über sie und küsste sie. Zu allem Schmerz, diese Stunde war unendlich beglückend, und alles nur durch den Glauben an Jesus. Wie viel Trost und Beherzigung ich aus diesem Erlebnis gewonnen habe, mein liebes Kind, wirst du später als großer Erwachsener erst begreifen können. „Ich will nie von meinem Heiland scheiden.“ Halte auch du fest an diesem Vorsatz, liebes Mariannele; du wirst im selben Glauben erzogen werden wie deine liebe gute Oma, und wie auch ich erzogen worden bin. Das Wichtigste an allem aber ist nicht die Lehre, sondern wie du dich in deinem Herzen zu Gott stellst. – 2 Tage vor ihrem Tode lag deine Oma ohne Bewusstsein, und so ist sie hinüber gegangen in die Ewigkeit. – Mariannchen, mein Kind. Wie groß unser aller Schmerz, ist unbeschreiblich. Nur eines ist mir ein Trost; das ist der Glaube an das Fortleben der Seele. „Selig sind die Toten, die im Herrn sterben.“ Und „Wer an mich glaubt, wird leben in Ewigkeit.“ Alles, was unsere gute Mutter für uns Kinder in so selbstloser aufopfernder Weise getan, ist uns zum Segen geworden, und im Sterben noch, denn sie hat uns unserem Gott wieder nahegebracht.
20. August 1929.
Am 7. August haben wir Onkel Karls Hochzeit gefeiert. Jetzt sagt Mariannele: „Gagada!“ –
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Seit 14 Tagen läufst du nun auch im Freien ganz alleine. Und 16 Zähnchen hast du schon.
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„In dich ströme Licht.
Ich begleite seine Strahlen mit meiner Liebe Wärme.
Ich denke mit meines Denkens besten Frohgedanken an Deines Herzens Regungen.
Sie sollen dich stärken!
Sie sollen dich tragen!
Sie sollen dich klären!
Ich möchte sammeln
vor deines Lebens Schritten
meine Frohgedanken, dass sie sich verbinden
Deinem Lebenswillen
Und er in Stärke sich finde
In aller Welt –
Immer mehr durch sich selbst.“
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28. Aug. 29
Geliehen von Fr. Dr. Mercedes Winterberg, Antroposophin
„Muttergebet“ von Rudolf Steiner.
3. August 1930. (2 Jahre 3 Monate)
„Guten Morgen lieber Papi. Hast du gut geschlafen?“
„‘Nannchen will wieder lieb sein. Nicht Wehwehchen kratzen.“ „Bitte noch ein „Flaumche.““
„Ringelreihen, sind der Kinder dreien – – unter Hollerbusch–.“
Aber ganz vollständig:
„Wenn die Kinder artig sind – sind sie alle froh und wenn sie dann recht lustig sind, dann machen alle soooo!“ Händeklatschen. „Onkel Gack und Tante Irm. Onkel Hans ist doch ein Onkel Hans?“
„Olle Däumselutscher Hans Jochen sagt.“
Jetzt trägt unser Nannchen Handschuhe zum Schlafen, damit es sich endlich das Däumchen abgewöhnen soll. Auch das Wehwehchen kratzen auf Bäckchen und Näschen. Wochenlang musste es mit Pflästerchen im Gesicht deswegen herumlaufen. –
Wenn die „Mami“ Hänschen klein geht allein singt, sagt Yannchen an der Stelle „aber Mama weinet sehr“ immer „die Mama ist doch lieb, nit so singen. – Ich habe es sicher schon 10mal ausprobiert. – morgens früh (1/2 7) klettert mein Püppchen aus seinem Fodobettchen heraus in Mamis Fodobettchen. Bald geht’s dann los mit den Verschen und hoppe hoppe Reiter auf meinem Magen, auf der Hüfte, auf meinem Gesicht, wie‘s gerade kommt. Es ist ja so schön! – Mit dem Mond und den Sternen hat sie’s viel und freut sich, wenn es die Sichel mal nah am Tage sieht. „Bald kommt ein Sternchen.?“ — –
Es ist nur das Tausendste von dem, was ich mit dir täglich erlebe, aber meine Zeit ist leider so knapp. Ich habe so viel andere Pflichten und komme nicht mehr zum Schreiben. – Morgen fährt Hans zum Schluss seines ersten Semesters nach Gaurettersheim, wo er seine Lieben trifft. – Letzte Woche waren Hans und ich mit Yannele auf dem Friedhof, und das Kind hatte so eifrig zu tun mit seinem Gießkännchen, die Blumen zu gießen, die Hans und ich eben eingesetzt. So ahnungslos lief das kleine Engelchen zwischen den Gräbern und wollte doch am liebsten alle Blümele pflücken. Du liebe, gute selige Mutter, wenn du unser Kindel so noch erlebt hättest.
Sept. 1930 Gewicht 27 Pfund, 200 gr.
Beim Mittagessen:
„Jetzt will ich vom Würstchen erst die Haut abmachen; Du musst warten, Mariannchen“ „Hat das Äpfele auch eine Haut?“ „Nein, es hat eine Schale.“ „Hast du, deine Finger, auch eine Schale?“ „Nein, meine Finger und deine Fingerle haben eine Haut!“ „Die Haut tut aber weh, wenn’s du dir‘s brennst, gell, Mami?“
Sept: 1930
„Was ist denn das, eine Zeitum? Wer hat sie desreibt?“ ———- „Was ist denn das, eine Wasserleitum?“
5.Okt.
„Onkel Karli, was hast du denn da? Sind das Federn?“ Sie meinte die Flaumhaare auf seiner Hand.
„Der lieber Gott hat die Birnchen gewachsen für mir“, „hast du eine Snautze, Papi? – Papigei! – Die Sonne rutscht an die Wolken. ————- „Is bin doch son Papi’s großes Mädel!“ —————-
Am 14. Dezember beim Häschen-Bilderbuch-Schauen. „Warum hast du denn so ein Swänzchen an deinem Popochen?“ und dabei langt sie sich selbst so hinten an das Plätzchen. ———–O h h h h h h h!
Januar 1931 du wiegst 30 Pfund!
Am 25. Februar 1931.
Weihnachten 1931!
Mein geliebtes Mariannele.
Ewig kam ich nicht zum Schreiben und dabei gab Weihnachten so viel Stoff. Diesmal hattest du ja so viel Verständnis für alles! Als du hereinkamst ins Zimmer sah dein Auge zunächst nur den prächtig geputzten Baum, und ein Leuchten und Staunen lag auf deinem süßen Gesichtel. Plötzlich sah das Yannchen die Äpfelchen am Baum und es rief: „Is will ein Äpfele haben, bitte, ein solches Äpfele“. Und es schmeckte dir der erste Bissen, bis du unter dem Baum die Spielsachen erspäht. Fort mit dem Äpfele und erst das „Negerlein“, dann die „Große Puppe!“ hei und! Das Rotkäppchen ist auch wieder da! u. s. f. Es war eine Seligkeit dich zu beobachten. Onkel Karl war auch da und Hans und teilten unsere Freude.
Es war auch sonst für uns Große ein schöner Heiliger Abend.
Seit 1. Febr. Geht unser liebes Kindel in den Kindergarten, (3 ¾ Jahre alt), wo es unter 9 Kindchen so glücklich ist. Die Frühstückstasche, die ich neu gekauft, brachte ihr besondere Freude, „Nun hab ich auch eine Tasche, wie Papa und der Hans eine Tasche hat!“ Und morgens früh, wenn wir alle noch schlafen wollen, besonders Sonntags, erklingt schon ein süßes Stimmchen mit: Fuchs du hast „dick“ ganz gestohlen oder „Wir treten auf die Kette“ oder „Maikäfer flieg“ u. s. f. „Wollen wir mal ‚pasieren‘ gehen, auf die grüne Wiese“, zu der Kusine, Kusine ist nicht da, gehen wir zur Omama, Omama ist auch nicht da, kehr‘n wir wieder um! Oder ein Pfälzer Lied: Heijo popeijo, im Sommer geht der Maien.
Wenn alle Kinder schlafen gehen,
Muss ich an der Wiege stehn,
Muss dann singen wick, wack,
Schlaf ein mein lieber Dicksack!
Schlaf, Puppele schlaf,
Der Papa hüt‘ die Schaf,
die Mama hüt‘ die Lämmele
in der grüne Brämmele
Schlaf, Kindele schlaf
Die schwarze und die weiße, die wollen zwei Puppele heiße, die grüne und die gele die wollen zwei Bubbele stehle…
Die Mama ärgert sich oft mit dir, denn abends willst du „in Mamis Dodobettse schlafen und kaum bist du drin, fallen dir noch viele andere Dinge ein, Grund einen oder den andern von uns zu rufen „Taschentuch, „Licht an“ oder „Wauwau im Bäuchele“
Kindergebet von Rudolf Steiner.
Von Kopf bis zu Füßen
Bin ich Gottes Bild.
Vom Herzen bis in die Hände
Spür‘ ich Gottes hauch.
Sprech‘ ich mit dem Munde
Folg ich Gottes Willen.
Wenn ich Gott erblicke überall
In Vater und Mutter, in allen lieben Menschen
In Stein und Baum, gibt Furcht mir nichts
Nur Liebe zu allem, was um mich ist. –
[kreuzweise durchgestrichen]
Tischgebet.
Es keimen die Pflanzen in der Erde Nacht,
Es sprossen die Kräuter durch der Luft Gewalt.
Es reifen die Früchte durch der Sonne Macht;
So keimet die Seele in des Herzens Schrein,
So sprosset des Geistes Macht im Licht der Welt,
So reifet des Menschen Kraft
In Gottes Schein.
[/kreuzweise durchgestrichen]
R.St.
Mein Gott, segne uns und die Nahrung, die wir jetzt genießen werden. Amen.
Der 3. Mai 1931 ging freudig vorüber! „Im Mai wird‘ ich drei!“ hast du bis jetzt immer gesagt. Ja, schon drei Jahre währt unsere Freude mit dir, ein liebes Mariannele!
Du hast so viel Spielsachen bekommen, mehr als mir recht ist, von Omama und Opa Küsel und Tante Frieda. Ich habe schon das meiste davon wieder verschwinden lassen, weil ich so ein verwöhntes Kindel nicht haben will.
Eigentlich Schreibenswertes weiß ich nicht. Ulkige Bemerkungen von dir könnte man sich vielleicht merken, wenn du im Bilderbuch, das du in jeder Form liebst, sei es ein Kunstkatalog oder Prospekt oder der kl. Brockhaus, also du sahst eine Madonna, die du „Mutti-Gott“ nanntest, oder den Hans nennst du „großer Fuchs“, wie er’s dir einmal vorsagte. Dein neuestes Mailiedchen heißt: „Mai ist’s und ein Käferlein kommt zur Erd‘ heraus! Sucht auf einem Bäumelein sich sein grünes Haus. Und bald kommen hinterdrein noch viel Maienkäferlein, Summ, summ, summ (noch 4-mal) schwirrt es um den Baum herum, summ, summ, summ, summ, summ.
Mannheim-Feudenheim, den 19. Aug. 31
Ich hätte so viel nachzutragen.
Am 26. Juni 1931 fuhr ich mit meinem lieben Mariannele nach Swinemünde, wo wir im Wiesbadener Hof, dem Heim für Handel und Industrie wohnten. Fast wäre diese kleine Reise nicht zustande gekommen, denn in dieser schweren Zeit stehen unsere Finanzen wackelig. Aber unser guter „Papili“ hat es doch möglich gemacht, nur um die, liebes Kind etwas Gutes für deine zarte Gesundheit anzutun. Erst hat es dir nicht gefallen wollen und „ich will wieder zu meinem Papa“ kam oft genug über deine Lippen. Als wir aber erst einen Strandkorb hatten und du mit den Kindern im Sand „gebuddelt“, war es doch zu schön! Die Wellen, das Wasser mit den Paddel- und Segelbooten, das Spiel der Großen und Kleinen am Strand gefiel dir bald so gut, dass du nie lang genug dort verweilen konntest. Die Aufnahmen, die ich dort von dir genommen, sind, nicht besonders gelungen, geben aber doch eine Idee von deinem Spiel am Strand; dieser Strand ist in Swinemünde ja direkt ideal; nahe, breit, lang und steinfrei. Unser Papa kam zum zweiten Sonntag, am 12. Juli 1931, um das Wochenende mit uns zu verbringen, aber leider musste er am frühen Morgen des Montag wieder nach Berlin zurück, da der Trubel der Danatbank und die folgenden Notverordnungen der Regierung ihn ins Büro seiner Bank zurückverlangten, denn der Chef befand sich gerade in Erholung in Reinerz. Wir blieben dann auch nur noch ein paar Tage, weil das Wetter nass und ungemütlich war. Für unser Väterchen folgten Wochen voll Unruhe und Arbeit, weil das Treiben der Banken und Börse ja so genau steht und fällt wie die In- und Ausländische Politik. Die Sparkassen zahlten nur 20.- Mark und nicht mehr, als sie endlich wieder geöffnet wurden; und die Beamten erhielten nur halbes Gehalt. Es tauchte von neuem die Frage für uns auf, kann ich mit dir nach Mannheim fahren, wohin uns deine Tante Mathilde Fattler und Onkel August eingeladen haben. Wir gönnten dir ja so gerne diese Luftveränderung und die damit verbundene gute Wirkung auf die Gesundheit. Als der 3. August kam, fuhren wir doch glücklich ab. Hans fuhr nach Semesterschluß endgültig nach 3 Semestern von Berlin ab. Onkel Karl fuhr mit nach Landau, um dort bei Tante Luise und Onkel Gustav seinen Urlaub zu verbringen. Tante Irm zog es auf eigenen Wunsch vor, in Berlin bei ihrer Mutter zu bleiben. Unterwegs, weil Hans es versprochen und wir gerne auch die lange Fahrt unterbrachen, stiegen wir in Würzburg aus. Von da fuhren wir nach Wittighausen und mit dem Omnibus nach Bütthard-Gaurettersheim zu Onkel Ferdinand Friedel, der dort Pfarrer ist. Bei ihm sind seine Schwester Helene Friedel und seine Cousine Mathilde Rächl. Die treue Magd heißt Brigitte. In den 2 Tagen, die wir dort in dem trauten Pfarrhaus verbrachten, hattest du, liebes Mariannchen, recht viel Freude. Der Hühnerhof mit den Enten und Gänsen waren dir so interessant. Und der Zamperle, der Hund, war dein ganzes Vergnügen. Wenn du sagtest: „Zamperle, mach Männele“, setzte es sich „schön“ hin und dann hörte man ein Juchzen aus deiner kleinen Kehle. In der Wiese konntest du rumtollen und Brigitte ließ dich Blumen gießen. Das war zu schön! Seit 6. August sind wir nun hier in Feudenheim angekommen.
Heute angekommen, lag ich morgens im Mannheim Krankenhaus an einer Darmentzündung in der Blinddarmgegend. Nach 4 Tagen durfte ich gottlob wieder „heim“, wo ich aber noch eine gute Woche zu Bett lag. Als ich mich von Tag zu Tag besser fühlte, fuhr ich am Sonntag, den 23. August mit im Auto nach Landau, wo ich nun die Freuden des verspäteten Wiedersehens erleben durfte. Du, mein liebes Mariannchen und Marie-Louise Buckley aus New York saßen zu beiden Seiten von mir auf der hübschen Fahrt durch die herrliche Pfalz über Ludwigshafen, Worms, Germersheim, Landau. Hans kam runter ans Auto uns zu empfangen. Rasch waren wir oben, und da standen sie denn nun alle da, die lieben Friedels, deine liebe gute Tante Luise, die beste, dann Onkel Gustav, Helmut und Ruthchen. Das war eine Freude, strahlende Augen, frohe Mienen. Onkel Karl freute sich auch sehr! Gleich liefst du mit Marie-Louise ins Spielzimmer, wo ihr euch nicht mehr vom Spiel trenntet, bis zur Heimfahrt. In der großen Diele war ja auch Platz genug zum Tummeln. In Helmuts liebe Art mit euch Kleinen umzugehen hast du dich wohl ganz verliebt. Immer wieder liefst du zu dem lieben großen Jungen hin, dem du sein Kusinchen bist. Und am nächsten Morgen daheim, war beim Erwachen die erste Frage: „Mutti, fahren wir heute wieder zu Helmut?“. Ich werd‘ es ihm das nächste Mal, wenn wir wieder hinfahren, erzählen. Er wird sich freuen, denn er hat dich ja lieb wie ein Schwesterchen. Nur zu rasch sind diese Stunden des Zusammenseins in Landau vergangen. Tante Mathilde und Onkel August sind am 24. August von Feudenheim per Auto in Urlaub gefahren; durch den Schwarzwald in den Allgäu, wo Lieselotte in Ferien zur Erholung ist. In 14 Tagen werden sie all 3 wieder hier bei uns sein. Dir mein liebes Kindel ist die Zeit nicht lange geworden. Jetzt wo endlich nach allem Regen, die Sonne sich endlich wieder zeigte, warst du mit deinen kleinen Pfälzer Freundinnen viel draußen im Garten und nachmittags am Neckar spazieren. Dein Appetit wächst! Dein Schlaf ist ruhig und gesund, das freut mich innig, mein Liebes! Für dich bringen Vati und Mutti so lange das Opfer der Trennung, damit du von der Luftveränderung profitieren sollst. Dein lieber Papa schickt dir fast alle paar Tage eine reizende Kinderkarte und lässt deine Puppen oder Wauwauchen oder Petz etwas darauf schreiben. Dabei sehnt er selbst sich wohl am meisten nach dir, du liebe Maus!
Hoffentlich wird es mir in der Zeit unserer Abwesenheit von Berlin gelingen all die Unarten, die du von dieser Spielschule heimgebracht und dir angewöhnt hast, wieder auszutreiben. Zum Beispiel das handheben und zuschlagen, sobald dir etwas an einem anderen Menschenkind nicht gefällt. Oder Neid zu erwecken suchen bei dem Nächsten „Etsch, ich hab’ was Schönes und du nicht!“ Ja, mein liebes Kindel, leider ist es wahr, dass du nicht nur das liebe, brave Kind bist. Aber du hast dir bis heute schon wieder sehr viel abgewöhnt. Und in den Kindergarten kommst du jetzt nicht mehr.
Seitdem wir hier mit Marie-Louise zusammen sind, habe ich auch eine Eigenschaft an dir gesehen, die dich selbst oft sehr quälte: das ist die Eifersucht. Ich versuche selbstverständlich dich nie zu reizen, rede dir vernünftig zu und zeige dir all meine Liebe!
Mitte Februar 1932 wurdest du krank, Mittelohrentzündung! Das war sehr schmerzhaft für dich, mein Süßes. Aber der „Onkel Doktor“ erkannte und behandelte es, Gottlob, gleich richtig. Und unser lieber Papili kaufte dir eine Ohrenbestrahlungslampe, damit dir ja rasch und sicher geholfen werde. Solche Ausgaben und in der teuren Zeit! Aber welches Opfer würden wir nicht für dich bringen, unser geliebtes Mariannchen! – Onkel Karl war auch sehr besorgt um dich, und er selbst saß oft lange an deinem Bettchen, um dich mit der Lampe zu bestrahlen. Es ging zusehends besser mit dir. Aber die Fiebertage haben dich arg mitgenommen. Dein Gesichtel ist so klein geworden und das Körperchen so wenig. Nun du wieder gesund warst, wollten wir auch etwas recht Wirksames für deine Kräftigung unternehmen. Der Arzt meinte: künstliche Höhensonne 20 Bestrahlungen! Natürliche Höhensonne sei natürlich das allerbeste! Da haben wir denn genau überlegt und hin- und her gerechnet und uns schließlich entschlossen, (weil künstliche Höhensonne dich nervös macht), dass ich mit dir 2 Wochen ins Hochgebirge fahre, und zwar haben wir als für uns das Zweckmäßigste Seefeld i. Tirol.
Am 8. März fuhr ich also mit dir über München – Schlafwagen III. Klasse – nach Seefeld. Es war herrlicher Schnee dort und du hattest von Anfang an große Freude. Als am 3. Tage gar die Sonne schien, konntest du im Schnee, – das heißt auf unserer Veranda – das erste Sonnenbad nehmen. In kleinen Aufnahmen haben wir es festgehalten. Die Bildchen findest du in „deinem“ Fotoalbum.

Als du dort Kinder auf Skiern sahst, wolltest du absolut auch welche haben. Da ich gerade eine billige Gelegenheit dazu hatte, bekamst du auch noch diesen Herzenswunsch erfüllt. Papa mag schön gestaunt haben, als der nächste Brief an ihn, ihm Aufnahmen von dir auf Ski-Schuhen bekam. Wie groß waren überhaupt die Freuden im Schnee für dich! Mit bloßem Oberkörper Schlittenfahren, hei, wie schön ging das den Hügel hinab. An einem Sonntagmorgen habe ich dich zum gr. Teil auf dem Schlitten in herrlicher Sonne nach dem so wunderbar gelegenen Mösern gefahren. Einen Tag haben wir auch in Innsbruck verbracht. Ich selbst hätte von dem Seefelder Aufenthalt auch viel an Gesundheit gewinnen können, wenn mein kranker Blinddarm mich nicht so geplagt hätte.
Aber die Hauptsache war ja, du kamst gestärkt und als „Negerlein“, so sonngebräunt nach Berlin zurück.
—– Inzwischen kam auch der 3. Mai heran, der dich dein 4tes Lebensjahr vollenden ließ. Am Morgen hast du deinen Geburtstag im Kindergarten im Gärtlein zwischen Blumen und Girlanden mit Kuchen und Schokolade gefeiert; am Nachmittag kamen die Großeltern und abends Tante Frieda, Onkel Karl und Tante Irmgard. Es war ein schöner Tag.
Seit 17. Mai 1932 – die Woche nach Pfingsten – bist du, liebes Mariannchen in Friedenau bei Onkel Karl und Tante Irmgard. An dem Tage kam ich nämlich ins Rudolf-Virchowkrankenhaus, wo ich mich nun endlich der so lange hinausgeschobenen Blinddarmoperation unterzogen habe. Es verlief alles normal, und nach 3 (13?) Tagen war ich wieder daheim. Da ich mich aber noch so schwach und elend fühle, haben sich Onkel Karl und Tante Irmgard erboten, dich noch eine Weile zu behalten. Es tut mir so leid, dass ich in die lange Trennung mit dir, mein Liebes, einwilligen musste, aber mein Zustand erlaubt es noch nicht anders. Auf dem Heimwege vom Krankenhaus machte ich bei dir in Friedenau Station. Papa holte mich am späten Nachmittag dort ab und brachte mich heim nach Südende. Als ich dort in Friedenau bei dir ankam, spieltest du gerade unten im schönen Hof. Als Tante Irm dich rief, wolltest du nicht glauben, dass ich da sei und verlangtest: „Die Mutti will mal zum Fenster rausgucken!“. Und als du mich sahest, warst du erst ganz erstaunt! Aber ich sah deinem lieben Gesichtel an, dass du froh warst. „Mutti!“ – „Mutti“, sagtest du nur immerzu, ohne dich von der Stelle zu bewegen. Wie fest gebannt standst du und sahst mich nur immer an! „Mutti!“ Dann kamst du 1, 2, 3, rauf und hingst an meinem Hals, die Tränchen vor Bewegung niederkämpfend. Ach, ich war ja auch so glücklich, dass ich dich, mein Herzenskind wiederhatte! Der Abschied gegen Abend war wieder schwer, aber es musste sein. Nun bin ich heute am 12. Juni 1932 schon in der zweiten Woche zu Hause ohne dich. Aber da ich mich noch sehr schonen muss und verschiedenen Wehwehchen ausheilen muss, musst du leider noch von mir getrennt bleiben. Onkel Karl kommt öfter und berichtete uns über dich. Du bist glücklich dort in der Baumeisterstraße, wo hinten im Hof zwischen prächtigem Rasen ein schöner Kinderspielplatz angelegt ist. Dort spielst du den ganzen Tag und hast viel Freude, dass du darüber gar nicht mehr an die Mutti denkst. Über die Berichte von Onkel Karl über dich, kleine Maus, müssen wir auch oft lachen. Einmal habest du zu Tante Irm. gesagt, als sie etwas von dir verlangte, was du nicht gleich tun wolltest: „Du böse Stieftante, du!“ – Einmal warst du mit Onkel Karl auf dem Friedhof. Es war gerade Fronleichnamsprozession und als während der Wandlung es klingelt, habest du dein Bildchen auf den Zehen ganz hochgehalten; „Damit es der liebe Gott und die Engelchen besser sehen können!“ –
Vorgestern habest du einen als Altbayer in Volkstracht angezogenen Zitherspieler auf der Straße gesehen und angestaunt: „Oh, ist das ein schöner Mann!“ und als du den Vollbart erblickt: „Ist das vielleicht der liebe Heiland?
— ———————- ——————-

Dieses schöne Kinderfest hast du nicht mitgemacht, weil du noch in Friedenau bist. Ich hätte dir die Freude ja so von Herzen gegönnt. Doch dann hätte es keine Trennung mehr gegeben, das weiß ich! Dieser neue Kindergarten gefällt uns in jeder Weise für Dich! „Tante Ilse“ macht ihre Sache gut mit Euch Kleinen!
—————
Vom 10. Bis 21. Juli 1932 waren wir zur Erholung im Harz, im Johanneser Kurhaus-Zellerfeld Wildemann. Leider waren es recht verregnete Ferientage. Wir waren auch in Bezug auf Verpflegung „hereingefallen“, denn der Herr Verwalter verabreichte seinen Gästen billigstes Essen d. h. billig für ihn, und als eines Tages viele, viele Gäste erkrankten, wurde bekanntgegeben, „man möge sich vor dem Harzwasser in Acht nehmen! – Du liebes Mariannchen littest auch zwei Tage an Brechdurchfall, wie noch viele Kinder dort unter den Gästen. Leider konnte man gegen diesen ungetreuen Verwalter nicht vorgehen. – In der letzten Hälfte des August 1932 – mit 4 Jahren 3 Monaten – bekamst du ein Serum gegen Diphterie. (Es war ein Pferdeserum.) 14 Tage lagst du bei einer voraufgegangenen Halsentzündung d. h. der Arzt hat es wohl erst später richtig erkannt und nun bist du dadurch sehr geschwächt. Wir fahren dich mal wieder, wie als Baby, im Sportwagen, damit du dich nicht zu sehr anstrengen sollst, denn durch die lange Bettliegezeit war dein Pulsschlag etwas matt geworden. Mit Erbrechen und Leibschmerzen ging’s an. Dazu kamen Halsschmerzen und Fieber. Der Arzt hielt es anfangs nur für eine harmlose Erkrankung. Als aber nach einigen Tagen – trotz aller eingehaltenen Verordnungen, Gurgeln, rohe Äpfel gerieben 2 – 3 essen, Halswickel, schwitzen) dein Zustand kaum besser wurde, machte Dr. Hahn einen Abstrich und sandte ihn ein „um mich zu beruhigen“, wie er sagte, denn er glaubte nur an eine starke Erkältung. Mit Erstaunen hörten er und wir aber bald, dass im Abstrich Diphteriebazillen gefunden seien, du musstest sofort strikteste Bettruhe wahren und bekamst gleich das Bering’sche Heilserum. Pferdeserum! Es wirkte Wunder, denn vom Moment an fühltest du dich wohl und wie ein normal gesundes Kind. Mit großer Sorge warteten wir den 9. Tag ab, die Krise. Du hast ihn gut überstanden, noch nicht mal Nesselfieber trat ein. Gottlob
[mehrere Seiten fehlen, herausgerissen]
Stündchen den Pfarrer kommen lassen „Das beweist alles nichts“, mit einer abfälligen Geste. Dies, liebes Mariannchen zeigt eine Gefühlsrohheit. Hoffentlich hast du es nie in deinem Leben je nötig, so um etwas zu bitten! Dies ist mein inniger Wunsch! – Dein lieber Onkel Karl ist das Gegenteil. Er ist die Liebe und Güte selbst. Er hat auch bewerkstelligt, dass du Seefeld zu deiner Erholung ein zweites Mal wiedergesehen hast. Er fuhr dorthin zu seiner eigenen Erholung, weil der Arzt es zur Kräftigung seiner Nerven empfahl. So nahm er dich mit und hat wie eine zweite Mutter dich gehütet und betraut, vom 11. Bis 26. Februar 1933. ——- Siehe Bildchen im Album.

Lange Pause mit Arbeit und Alltag!
Kindergeburtstag bei Stefi!

1933
Am 7. November 1934 sind wir nach einem 5 wöchentlichen Aufenthalt in der herrlichen Pfalz, bei Tante Lully in Landau zurückgekehrt. Es waren noch schöne, sonnige Herbsttag, die wir dort genießen konnten. Wir haben aber auch eifrig Touren gemacht. So nach Godramstein, Frankweiler, 2 * Buschmühle, Wachenheim, wo es noch „Süßen“ gab und wir den Festzug des Erntedankfestes sahen. Rietburg, Annweiler und wie die herrlichen Flecken dort alle heißen. Es war unser erster Besuch nach dem Tode des lieben Onkels Gustav. Oft standen wir an seinem Grab und haben in Trauer seiner gedacht. Ruthchen und Mariannchen waren die treuesten Freundinnen, wenn nicht gerade Eifersucht oder der Ehrgeiz sie zum Streiten brachte. Der liebe Helmut war zu der Zeit in Sonthofen, ein Arbeitslager, und wir konnten ihn nicht genießen. Eine liebe Familie (Wollmeringer) hat Luise dort, die sich wie Verwandte um alle Sorgen und alles Erleben von Tante Lully kümmern. Mit Helmut ist viel Kopfzerbrechens, denn zu diesen Zeiten ist es unsagbar schwer, in einem Beruf unterzukommen. Da sorgt sich Onkel Karl, und Tante Maria tut, was sie kann, und Herr Wollmeringer beratschlagt, wie‘s wohl am besten für Helmut wäre. Auch Hans in München, muss als mal die Schule im Stich lassen, und für den Bruder sich bemühen. Aber wir hoffen, dass es endlich gelingen wird, dies auch in Anbetracht der Verdienste des verstorbenen Vaters, dass Helmut Zöllner wird. Einstweilen ist er SA-Mann und bekommt hoffentlich Urlaub, zu einem Besuche nach Berlin, wohin ihn Onkel Karl eingeladen. Wir freuen uns schon sehr auf ihn! Liselotte Fattler hat uns während wir in Landau waren, auch besucht dort. Sie weiß mit ihren Sprachkenntnissen, franz. Und italienisch, Musik etc. auch nicht, wie sie unterkommen soll. Es ist auch für die Mädchen heutzutage schwer, sich auf eigene Füße zu stellen.
Nun bist du in der Schule, liebes Mariannele und lernst mit der Feder Süderlinschrift. Dein erstes Zeugnis war glänzend, so dass ich es wagen konnte, dich 3 Wochen über die Ferien aus der Schule zu lassen. Die herrliche Pfalzluft tat dir gut. Und Dr. Arnhold, der Mann unserer Freundin Berta Rollin schrieb das Attest. Sie wohnen auch in Landau, und sind die lieben Freunde aus Metz für uns geblieben.
– 28. Nov. 1934
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Der Winter 34/35 ist vergangen. Das liebe Weihnachtsfest strahlte noch lange zurück, und die Puppenschule, die das liebe Christkind gebracht hat, stand noch über Ostern!
Das erste Schuljahr ging mit einem guten Zeugnis für dich zu ende, aber dein Gesichtel ist schmäler geworden. Du wächst und kommst im Gewicht dem Verhältnis nach nicht mit. Um etwas für die Kräftigung zu tun, habe ich dich am 1. Mai nach Bad Saarow gebracht, wo du im Kinderheim der Franziskanerschwestern gut aufgehoben bist.
Mai 1935
Saarow ist ein herrlicher Luftkurort in der Mark, am Scharmützelsee. Das Heim mit wundervollem Wald-Grundstück reicht bis zum See hinab; und wir hoffen, dass die gute Luft dort, und Pflege in der Pünktlichkeit des Schwesternhauses deine Zappeligkeit, Appetitlosigkeit, das rasche Wachsen, den Schlaf und vieles andere so günstig beeinflussen werden, dass du gut erholt zurückkommen wirst. Der Abschiedsschmerz war ja groß gestern und deine Tränen haben mich selbst so weich gestimmt. Aber es ist gut so dort für dich!
27. Mai 1935
Mein Geliebtes! Fast 4 Wochen Trennung von dir ist überstanden. Ich habe viel Heimweh nach dir! Es ist so leer im Hause und wir, auch der „Papi“ vermissen dich sehr. Dein Geplauder mit uns und ohne uns, mit den Puppen und Petzen und deine Liedchen und Verslein, die du hersagst, noch abends im Bett, bis dir die Äugelein zufallen. Wir telefonieren 1 x pro Woche mit der Schwester Oberin (Schwester Gabrielis) und hörten, dass du das Heimweh der ersten Tage gut überwunden hast. Nur abends komme „das Regenwetter.“ Aber dann schläfst du ja bald ein. Als kürzlich Papa telefonierte und Schw. Oberin dich zum Telefon rief, konntest du kein Wort hervorbringen, aber gleich drauf hörte er dein Weinen. Ja, es ist nicht schön, aber es muss ja sein für die Gesundheit. Am 19. Mai hat Onkel Karl dich besucht. Das war eine Freude! Am Himmelfahrtstag komme ich. Ich freue mich alle Tage darauf!
4. Juni 1935
Mein geliebtes Mariannchen!
Ich denke alle Stund‘ an dich und habe dein Bild auf meinen Nachttisch gestellt. Nein, näher kannst du mir deshalb nicht sein! Wenn du dies später mal lesen wirst, siehst du, dass nicht nur du Heimweh gehabt hast. Himmelfahrtstag bei dir war schön. Aber in gedrückter Stimmung fuhr ich heim, denn ich musste dich so traurig dort lassen. „Kinder vergessen rascher!“ sagt man. So hoffe ich hast du dich bald wieder in dein Leben dort eingefunden. Ja, ich weiß, daheim ist’s anders. Da dreht sich fast alles „ums Kind“ und dort muss das Kind sich nach den anderen Kindern richten. Das zu lernen bringt dir sicher Gewinn. Das Essen wäre daheim ja gewiss besser, aber ein noch so gutes Essen nützt nicht viel, wenn es der Körper doch nicht aufnimmt und verarbeitet. Die Luft ist jedenfalls herrlich dort. Schade, dass es dieses Jahr gar nicht so recht Sommer werden will. Der Mai war kühl und nass, diese ersten Junitage sind auch nicht viel schöner. Hoffen wir weiter! Am Sonntag 9. Juni, Pfingstsonntag, kommt Papa dich besuchen!
Es kam anders, ganz anders! Als ich eines Abends wieder mit der Oberin sprach, sagte sie mir am Phon, dass sie leider Diphteriefälle unter den Kindern hätten. Morgen käme ein Arzt, um Abstriche zu machen. Wie ein Donnerkeil schlug das ein. Mit dem frühesten Zuge 5 20 fuhr ich am nächsten Morgen nach Saarow, um dich zu holen. Hier angekommen, gingen wir gleich zu Dr. Beutler am Reichskanzlerplatz und ließen einen Abstrich machen, der negativ war. Gott sei Dank! Außerdem stellten wir fest, dass du nur 1 Pfund an Gewicht zugenommen hast. So hat sich also unsere Hoffnung auf eine gute Erholung in Saarow nicht erfüllt.
Am 2. Juli fuhrst du mit Mutti und Papi nach Oberbayern. Im Alpenhof bei Frau Löhr in Heilbrunn bei Tölz wohnten wir und es gefiel uns gut. Früh gingen wir Brunnentrinken, du schliefst noch weiter, und als wir zurückkamen, warst du am Anziehen. Nach dem Frühstück gings los zu den Wasserfällen, meist barfuß über Wiesen, in den Bach zum „Kneipps Fußbad: Wassertreten.“ Du kleine Maus spaziertest als Nackedei auf den Riesensteinen des flachen Wasserfalles lustig herum und hattest einen Mordsspaß! Guten Appetit hattest du dort in der herrlichen Luft des Voralpenlandes. Nach 4 Wochen sahst du auch recht erholt aus, aber leider brachten dir die paar Münchner Tage bei Tante Mathilde eine Magen- und Darmverstimmung mit Fieber, das selbst hier über die Reise nach Berlin noch anhielt. 2 Tage lagst du noch hier zu Bett. Ich machte heiße Wickel, und mit getrockneten Heidelbeeren haben wir den bösen Darmkatarrh dann geheilt. Nach den 2 Tagen im Bett war am dritten Tage die Ärztl. Untersuchung zur Verschickung der Kinder durch die Krankenkasse D.H.V. Der Antrag dazu war vor Monaten (im April) gestellt und zum August bewilligt. Am 7. August sollte der Kindertransport abgehen. Ich fürchtete, es werde uns mit dir nicht gelingen, weil das Fieber dich so elend gemacht hatte. Aber es glückte doch. Wir hatten wieder neue Hoffnungen auf gut Erholung für dich zartes Dingelchen. Du lerntest bei der Untersuchung dort Ursula Meyer kennen, eine kleine Blonde in deinem Alter und bald freundeten Ihr euch an. Am Tage des Abtransportes hat sie dich am Bahnhof schon gleich freudig begrüßt und Ihr lieft schulterumarmt auf und ab. Ich freute mich, weil das dich ablenkte und ich mir sagte, nun fällt der Abschied dir nicht so schwer. So war es auch. Papi und ich waren beide am Morgen 8 43 am Zuge und brachten dich zur Abfahrt nach Oberschreiberhau im Riesengebirge zu den mitfahrenden Kindern, die an den Leiter und einer Leiterin des Kindertransportes (8 Mädchen, 11 Knaben) sich sammelten. Alles verlief glatt und sicher. Man merkte, da hat Erfahrung und Übung die Leiter sicher gemacht. Es war nette Stimmung unter allen. Hermann-Johann-Heim ist der Name des Kinderheimes, in dem du vom 7. August bis 18. Sept. 35 untergebracht bist zu einem regelrechten Kurgang, unter ärztlicher Aufsicht und von geprüften Krankenpflegerinnen und Kindergärtnerinnen geleitet. Wir hörten gute Empfehlungen über das Heim und sind sehr beruhigt, weil wir dich gut aufgehoben wissen. Auf der nächsten Seite füge ich die Karten ein, die du uns von dort geschickt hast, du liebe Maus! –
Ich will noch nachtragen, dass wir anschließend an Heilbrunn eine Woche in München waren, wo Onkel August, Tante Mathilde mit Liselotte in Schwabing, Hohenzollernplatz 1, wohnen. Sie waren alle 3 recht nett und lieb zu uns, was uns besonders an Onkel August auffiel. Jeden Sonntag schon kam er uns mit seinem Wagen von München aus in Heilbrunn besuchen und fuhr uns in die Berge. So sahen wir die Seen: Tegernsee. Um den See herum fuhr er uns bis Bad Krauth. Nächster Sonntag den herrlichen Walchensee, wo wir in Urfelden Kaffeestündchen hielten. Geneppt mit 5 Mark! Am folgenden Sonntag waren wir in Garmisch-Partenkirchen. Sonntag drauf in Oberammergau und Kloster Ettal. Wunderbare Natur!
Eines nachmittags fuhr er uns nach Schloss Nymphenburg und nach Dachau, wo wir Viktorine Friedel, die Cousine von Gustav Friedel, die Tante von Hans, Helmut und Ruth Friedel besuchten. Die Überraschung ist uns geglückt und sie hat sich riesig gefreut. Liselotte, deine große Cousine war auch lieb zu dir und es hat auch dir dort gut gefallen, gelt?
Am 18. August kommst du nun von Oberschreiberhau zurück. Da ist eine Mutti und ein Papi, die sich sehr auf dieses Wiedersehen mit ihrem geliebten Kindchen freuen! Noch 10 Tage!
Und es war ein glückliches Wiedersehn am Bahnhof! Am 18. August 1935. Frisch und gesund sahst du aus mit dicken Bäckchen und 56 Pfund wiegst du nun. Wir sind alle drei recht glücklich Und Onkel Karl freut sich mit!
Am 12. Mai 1936.
Fast ein Jahr ist vergangen, ehe ich wieder in dies Buch schreibe. Ein Zeichen, dass ich wenig freie Zeit fand. Ich will versuchen in groben Zügen nachzutragen, was seit Sept. sich ereignete und des Erwähnens für dich Wert ist. Winter und Weihnachten! Freudenwochen für Kinder auch in der Großstadt. In Februar musste Onkel Karl sich einer schweren Magenoperation unterziehen. Tante Lully kam mit Ruthchen an. Für uns Große war die Zeit eine bange, denn wir zitterten um unseren lieben Bruder. Nur Ruth und Marianne waren glücklich und genossen das Zusammensein tüchtig. Ruth ging hier zur Schule.. Für Onkel Karl verlief nach einer glücklich überstandenen kleinen Embolie alles auch endlich gut. Wir atmeten auf. Aber für meine Nerven kostete es Kraft. Ich musste selbst geröntgt werden, so krank fühlte ich mit. Gottlob war das Ergebnis ohne Befund,, also nur nervös. So leide ich auch augenblicklich an Nervenneuralgien, die sehr schmerzhaft sind. Lumbago und Ischiasnerv. Ich bekomme Rotlicht und Solluxbestrahlungen, auch Höhensonne. Aber die Besserung schreitet nur langsam voran. Ein Glück, dass du, Liebes Mariannchen nicht daheim bist, du würdest dich sehr vernachlässigt vorkommen, denn ich kann nicht viel tun. Du bist nämlich schon seit 30. April im Kinderheim „Schöneberg“ in Wyk auf Föhr auf 6 Wochen zur Erholung. Krank bist du nicht. Nur die Drüsenschwellung verlangt Vorsicht und Kräftigung. Der Vertrauensarzt hat die Frühjahrskur an der Nordsee vorgeschlagen, und die Kasse hat bewilligt. Natürlich zahlen wir unseren Anteil, aber trotzdem sind wir für dies Anerbieten dankbar und freuen uns sehr über diese Möglichkeit für dich. Morgen früh 5 40 kommst du mit dem Kindertransport auf dem Lehrter Bahnhof an. Ich freue mich schon lange auf dich und bin neugierig, wie du dich erholt hast.
Heute 10 Mai 1937
Ein ganzes Jahr ist vergangen, ehe ich wieder die Feder ergreife. Ich will kurz bemerken, dass die Erholung an der Nordsee nicht die war wie im Riesengebirge, nicht halb, kaum ¼ von dem Erhofften. Es lag bestimmt an der Leitung dort nach dem Erzählen aus deinem Kindermund zu urteilen. Die „Tanten“ waren nicht interessiert genug an den Kindern und die Aufsicht locker. Wir haben jedenfalls die beste Absicht gehabt, für deine Gesundheit das Beste zu tun. Dass es anders ausfiel, ist nicht unsere Schuld. Heute stehen wir wieder vor der Frage, wie dir für dein rasches Wachsen etwas Wohltuendes für deine Gesundheit angedeihen zu lassen. Tante Mathilde, deine Patentante, hat dich nach München eingeladen. Leider riet der Arzt von der Münchner Luft ab und die Fügung Gottes brachte auch die Lösung so, dass du nicht hinfährst, denn Onkel August ist nach Eisenach versetzt. So fährst du jetzt zu Tante Lully und Ruthchen nach Landau. Ludwig Liebel, M. d. R., der dienstlich in Ludwigshafen Rh. zu tun hat, wird dich mitnehmen in die Pfalz. Auf diese Weise sparen wir das Fahrgeld, Zeit und die Anstrengungen der weiten Fahrt, um dich hinzubringen. Du sollst dort in die Schule gehen für den Rest der Schulzeit vor den Ferien und dann die Ferienwochen noch dort genießen bis 1. August, dann sollst du noch nach Niederschreiberhau auf 4 Wochen in einem Kinderheim dich an der Gebirgsluft stärken.
Am 3. Mai bist du 9 Jahre alt geworden. Wir haben deinen Geburtstag diesmal besonders schön gefeiert. Im Ganzen waren 8 Kinder eingeladen (Herat Feldhaus, Uta Brucke, Brigitte Leinen, Stefi von Gizycki, Irmgard Müller, Irmtraud Raguse, Annamonika Tolger, Ingrid Hanzleden) eine lange Tafel! Wir spielten viel schöne Spiele und „Kasperle in der Geisterstunde“ war der Glanzpunkt. Frau Lehn und ich waren die Schauspieler hinter dem Vorhang. Wir freuten uns über den Beifall des kleinen dankbaren Publikums. Um halb 9 Uhr gingen die letzten kleinen Gäste.
Dein lieber Papi machte sich zu Ehren des Tages auch mal am Abend von seinen Verpflichtungen beim R.L.B Reichsluftschutzbund frei, schweren Herzens, denn er arbeitet jetzt als Rev. Gruppenführer, mit großem Eifer und aufopfernder Hingebung jeden Tag, so durchschnittlich 4 – 5 Stunden für den R.L.B. dies alles neben seiner Berufsarbeit im Büro. Ich finde es nicht recht, dass er sich so sehr für die Allgemeinheit opfert und aus Pflichtgefühl opfern muss, wo so viel andere, die ausgezeichnet sind, es so leicht haben und er ohne Anerkennung bleibt. Aber Ungerechtigkeit wird immer existieren, solange die Menschheit besteht, immer und überall! Ich fürchte nur um seine Gesundheit, denn er mutet sich zu viel zu durch diese ehrenamtliche Arbeit. Ermunternd ist es gewiss auch nicht für ihn, wenn er erleben muss, dass höhere Amtsträger, die bislang bezahlt wurden für ihre Mitarbeit, sofort ihr Amt aufgaben, als es hieß, nun auch ehrenamtlich zu arbeiten. Es ist halt so, und ehrt ja deinen Vater nur, dass er so ideal für sein Vaterland wirkt. Gebe Gott, dass er gesundheitlich nicht unter der Last zusammenbricht.
Ich leide wieder sehr unter Lumbago-Nervenschmerzen, und der Ischiasnerv ist stark in Mitleidenschaft gezogen. Im vergangenen Frühjahr war dieselbe Sache. Die Entzündung ging durch Solluxbestrahlungen, Salhuminbäder und Massagen ziemlich zurück. Wenn das liebe Geld nicht so knapp wäre, könnt man mal eine gründliche Kur in einem Sanatorium machen. Wenn du jetzt in Landau bist, will ich zum Arzt.
Wenn endlich Sonne käme, schöne warme Sonne! Die lässt in diesem Jahre lange auf sich warten.
19.Mai 1937
Mein liebes Mariannele, oft wünsche ich, du seiest ein paar Stunden schon erwachsen und reif, dass ich mit dir reden könnte über Dinge aus dem Leben und dem innersten Erleben. Ich habe keinen Menschen. Und dem Papier kann man sich nie vollends anvertrauen.
Heute will ich dir etwas wenigstens kurz niederschreiben, worauf du dich in deinem späteren Leben gern besinnen mögest. Ich las es in dem Buch „Das Erbe von Björndal“, es sind Gulbranssen-Worte.
„All unser Sein und Tun ist ganz in Staub beschränket,
Es findet keinen Weg zu Gott, so sehr es fleht;
doch gnadenvoll hat Er uns das Gebet geschenket,
dass es nicht arm und bloß, nein, reich gezieret steht.
Er wies uns selbst den Weg, der über alle Sterne,
Durch Leben und durch Tod hinauf zum Himmel geht.
Er führt uns grad hindurch aus unsrer Erdenferne.
Des Menschen Willensweg zu Gott ist das Gebet.“
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Berlin-Steglitz, 19. Mai 1937
München-Schwabing, Unertlstr. 15/II.
den 22. Sept. 1938
„Die Jahre fliegen eilgeschwind“
So ist’s! mein letztes Datum war Mai 37. Inzwischen ist’s September 38 geworden. Was hat sich nicht alles in diesem Jahr ereignet! In den Sommerferien 1937 warst du zuerst 6 Wochen in Landau bei Tante Lully, d. h. du gingst dort zur Schule und anschließend daran hast du 4 Wochen in einem Kinderheim „Haus in der Sonne“ bei „Tante Hansi“ verbracht und kamst erholt und gestärkt wieder. Wir waren auch im Riesengebirge – 3 Wochen – in Ober-Seidorf, wo es uns, wie immer in den Schlesischen Bergen, sehr gut gefiel. –

Im Herbst kam für Papi die große Enttäuschung im Reichsluftschutz-Bund, wo er statt einer Anerkennung seiner treuen Arbeit nur Undank und Ärger, Neid und Untreue erfuhr. Eine lange Geschichte, die unendlich betrübend ist für einen Menschen, der die Ideen des nationalsozialistischen Staates nur ideal auffasst und danach handelt, der aber bei der niedrigen Menschlichkeit, die immer und überall halt vorhanden ist, auf solchen Widerstand stößt. Jedenfalls ist unser Papi mit den Nerven fast zu Ende. Sein Erlebnis im Beruf gab ihm den Rest. Seine Arbeitsstelle, eine jüdische Bank, ist im Umsinken und so kam zu allem noch die große Sorge um die Existenz!
Und keiner der „Freunde“ ist bereit, mal helfend einzuspringen, zu sorgen, dass ein tüchtiger Mensch mit solch hochanständiger Gesinnung wieder auf den richtigen Platz kommt. „Freunde in der Not!“ Ein uns befreundeter Reichstagsabgeordneter L.L. [Ludwig Liebel], dem wir verschiedentlich große Dienste geleistet und der uns zu Dank verpflichtet wäre, hat sich in großes Schweigen gehüllt und nichts getan, um eine neue Stellung zu schaffen. Nur viel leere Worte hat er gemacht und sich gebrüstet, was er alles ist und was er alles kann. Er ist auch, abgesehen von seiner unanständigen Haltung in diesem Falle, der mir bekannte verachtenswerteste Mensch!
Wie schwer es ist, gezwungen zu sein, sich eine neue Lebensstellung zu schaffen, haben wir erfahren. Da nützt alle Tüchtigkeit nichts, wenn nicht einer da ist, der darauf achtet und danach fragt und verlangt. Unser Papi brach zusammen, da man den Juden, seinen Chef, auf Herz und Nieren prüfte und er doch nicht absolut sicher war, ob der Chef nicht doch etwas hinter Papis Rücken getan hat, was zu verwerfen war. Es kam der Nervenzusammenbruch und unser Papi musste fort! Es war so schlimm. In Bad Wörishofen im Allgäu, bei Kneipp, hat er sich erholt und dann wieder die Arbeit an seinem alten Platz aufgenommen, harrend der Dinge, die das neue Jahr 1938 bringen werde. Und es brachte noch viele Enttäuschung, nach 188 Absagen, nach mancher Niedergeschlagenheit endlich durch Onkel August eine zusagende Stellung in München bei den Bayerischen Motoren Werken. Wir konnten es gar nicht glauben anfangs, dass auf einmal die Sorge von uns genommen sein sollte. Liebes Kind, Du wirst es nicht wissen und begreifen, was wir durchgekämpft haben. Es ist auch nicht zu schildern. Jedenfalls haben wir an meinem Bruder Karl, dem lieben Onkel Gack, viel Stütze und Hilfe gehabt in dieser schweren Zeit. Am 1. Mai trat Papi hier in München seine neue Stellung an. Am 25. Juni fuhrst du zu Tante Mathilde und Onkel August nach Eisenach, denn nun klappte ich zusammen. Am 13. Juli habe ich in Berlin die Möbel verladen lassen. Am 15. Juli war ich in Bad Aibling-Harthausen und trat eine Moorbadekur an. Am 15. Juli kam ich nach München zu Papi, und wir richteten die Wohnung ein. Am siebenten August brachten dich Tante und Onkel im Auto von Eisenach nach München.
Am 12. Sept. ging hier deine Schule an. Es ist die Franz-Josef-Oberschule in der Franz-Josef-Straße. Nun sind wir endlich wieder in einer geordneten Wohnung und in Zufriedenheit vereint. Es gefällt uns in München in unserer neuen bayerischen Heimat recht gut und wir schauen froh in die Zukunft. Zurzeit ist unser Papi auf 3 Tage nach Berlin gefahren.
Die Großeltern, Helene und August Küsel, begehen heute am 22. September das hohe Fest ihrer Goldenen Hochzeit!

Sie wohnen in Berlin-Wilmersdorf, Nassauische Str. 38. Papi wird natürlich Onkel Karl besuchen, wo augenblicklich dein Vetter Helmut Friedel weilt, bis November, wo er in Würzburg/Main dann sein Studium beginnen wird. –

Ich wollte noch schreiben, dass in der Woche, bevor Papi nach München fuhr, am 24. April 1938 du das Fest keiner ersten heiligen Kommunion begangen hast. Es war ein schöner, feierlicher Tag, an den du gewiss größere Erinnerungen und ein besseres
[mehrere Seiten herausgerissen, folgender Satz später ergänzt]
Andenken daran in Deinem Innersten bewahrt hast, als ich es mit diesen armseligen Zeilen festlegen kann.
Am 23. August 1943 ist unser lieber Hans in Russland gefallen und im Kaukasus beerdigt.

