Schachbrettakelei

Das heilende Gold

Wieder einmal bin ich durch das Neckartal meiner studentischen Vergangenheit gefahren und in eine wenig magische Straße abgebogen, um in die helle und klare Praxis meiner chinesischen Wunderheilerin zu kommen. Heute soll es zum ersten Mal eine Shiatsu-Massage geben und in meiner nachhaltigen Naivität erwarte ich Wellness. Zur Einstimmung lässt sie mich herumlaufen und beobachtet meinen Gang. Dann setzt sie mir ein Reissäckchen auf den Kopf, fasst mir zart, aber bestimmt an den Rundrücken und will mich zur aufrechten Haltung bewegen. Ich kann es, aber von links hinten kommt die schwarze Hex‘ und sagt: „Du musst dich kleiner machen, so kriegst du keinen ab, so will dich kein Mann…“ und die Männerköpfe, die um meinen Kopf kreisen, bleiben imaginär, sie würden mich nicht finden, wenn ich mich nicht klein mache und weg ducke. Es kullern die Tränen. Ich bin so angefasst, buchstäblich, von einer überwältigenden Trauer für dieses kleine Mädchen, das sich für immer ducken muss. „Wo sitzt das, dass Sie so zusammenkrümmt?“ fragt sie und ich suche nach dem Ort, an dem es sich zusammenzieht, es ist ein bisschen über dem Solarplexus, „im Kern“ sagt sie. „Im Kern“ schreit mein wundes Herz. Schon bevor ich auf der Liege Platz nehmen kann, bin ich komplett überwältigt von dem, was hier grade mit mir passiert und mit welcher Wucht es aus den tiefsten Tiefen hervorbricht. Das gehört nicht in die Praxis einer Heilpraktikerin, das ist nicht Teil der Rolle, den ich für sie vorgesehen hatte. Ich schaffe es immerhin, mich überraschen zu lassen.

Dann liege ich da und lausche darauf, was es mit der Shiatsu-Massage auf sich hat und während ich noch denke, och-das-ist-aber-gar-nicht-so-spannend-wie-ich-gedacht-habe, steige ich nach langer Zeit wieder hinab ins Zwischenreich. Ich stehe vor dem Küchenfenster im Karwinkel, die Stelle, an der mir der Weg raus mit einer Dornenkrone versperrt war, die Stelle, an der mein Vater sich in eine bunten Hahn verwandelt hatte und die Ecke, an der wir Onkel Peter einmal morgens im Glashaus schlafend vorgefunden hatten, weil er in seinem Suff die Haustüre nicht aufschließen hat können. Die Wirklichkeiten in meiner Vergangenheit sind schon lange nicht mehr an „echte“ Erinnerungen gebunden. Durch das Küchenfenster sehe ich Onkel Peter, also bin ich jetzt in studentischen Zeiten? Sind die Großeltern weg? Aber der Raum vor der Küche ist weit und offen, sein Carport fehlt, die Chronologie ist aufgelöst. Der Verlust der linearen Zeit, der vielleicht darin enden könnte, dass alles ineinander verschmilzt und es am Ende keine Vergangenheit und keine Zukunft mehr gibt, sondern alles in Eins fällt?

Von oben vom Balkon fällt Asche in weiten Bögen, als wären es die Glitzerlichter eines Feuerwerks. Und dann steht er plötzlich vor mir, ein humpelnder alter Mann, stützt sich mit seinen O-Beinen auf einen Stock. Alt ist er aus der Sicht einer kindlichen Steffi, in Wirklichkeit ist er eher so alt wie ich jetzt. Sofort klickern die Möglichkeiten. Eine Kriegsverletzung? Hatte nicht Onkel Konrad oder Willy was am Bein? Ist das ein Fremder, irgendein Bekannter von Gustl und Luise? Er kommt auf mich zu, will mit mir reden, aber nicht gleich losschlagen, wie in der Zeichnung aus der Gauss’schen Sammlung, an die ich denken muss. Der humpelt nicht mal, weiß nicht, wieso der sich jetzt hier einmischen muss.

Also, der ist es definitiv nicht und ein Fremder kann es auch nicht sein, denn das Humpeln ist mein Ischias-Schmerz, der nicht gehen will, also muss er mit mir verwandt sein. Mein Opa, der Gustl, ist als alter Mann mit Stock gegangen. Ich habe noch einige von seinen Stöcken, die sind sehr schön, Geschmack und Sinn für Mode hatte er auch da. Der ist es aber auch nicht, sagt mein Rücken. Es ist auf jeden Fall ein Mann, es ist nicht Eva-Schwesterherz, und jetzt verstehe ich, warum ich auf die Fragen der Heilerin nach den Hintergründen meines Ischias immer wieder gezögert hatte, diese Vermutung auszusprechen. Ich hatte gedacht, dass der Schmerz mit meiner Schwester zusammenhängt. weil ich beim Pilates gefühlte Jahre lang an ihre Rückenmetastasen angedockt hatte, und mich in dieser Stunde in ihren Schmerz begeben hatte, unausweichlich, aber gleichzeitig mit einem leisen Zynismus des als-würde-das-was-helfen. Aber wieso ein Mann? Was sagt das über meinen Ischias-Schmerz aus, wenn er sich in einem humpelnden, alten Kerl verkörpert? Meines Vaters Schlaganfall wurde ausgelöst, so erzählt es die Geschichte, durch eine Thrombose, die ins Hirn gewandert war. Ich erinnere mich, wie er vor dem Schlaganfall auf dem Sofa saß und sein – wohl schmerzendes – Bein massierte. War es etwa auch das linke? Wäre das ein Argument, dass mein Ischias etwas mit ihm zu tun hat, mit seiner Krankheit? Habe ich seine Schwachstelle übernommen? Oder ist das alles viel zu weit hergeholt? Geht es gar nicht um einen Menschen außerhalb von mir sozusagen, sondern um einen Aspekt meiner Selbst? Und der wäre? Ich weiß es nicht. Wie so oft im Zwischenreich, gibt es erst mal keine Auflösung des Rätsels. Vielleicht braucht es gar keine?

Ich stehe immer noch unter dem Balkon und meine Brille ist mittlerweile beschlagen vom Aschestaub, aber ich kann doch hoch oben unter dem Dach das kleine halbrunde Speicherfenster sehen und dort wartet der Trost meiner jetzigen Welt. Nachdem Micha alle Stühle aus dem Speicher in den ehemaligen Laden geräumt hatte, hatte er die Muse, die wunderschöne Christbaumkugel, die mit dem Vögelchen drin, in dieses Fenster zu hängen und brachte damit die spielerische Leichtigkeit der Realität in die wüste Zeit der Hausräumung. Das Fensterchen haben wir mitgenommen ins Reich Wahrbachien und nun steht es im Wohnzimmer an ein Fenster gelehnt herum und ist mit dieser Szene verbunden.

Aber die Geschichte ist hier noch nicht zu Ende. Bei der nächsten Shiatsu-Massage erspüre ich eine Leere im Bauch, wieder gespiegelt durch ein Bild, das wieder nicht das deutlich macht, was meine Erinnerung drin gesehen hatte. Es fühlt sich an, als wäre zwischen den Narben meines Thorax und dem Ischias-Schmerz – im Bild durch die sklerosierten Hüftknochen symbolisiert – nur Luftraum und alleine die Wirbelsäule überbrückt zwischen Ober- und Unterkörper.

Während ich auf der Massageliege diese Leere zwischen ramponiertem Thorax und Ischias-Schmerz-geplagter Hüfte zu beschreiben versuche, entsteht die Imagination eines ersten Halts. Ich sehe und spüre eine Metallstange in mir, mit Ösen an den Enden, die sich am Schmerz andocken und – natürlich auf der linken Seite, wo sonst -, eine erste Stütze herstellen, in der mein Bauch sich wieder mit Spüren füllen könnte. Diese Stange ist in meinem Inneren, dort, wo keine Stangen hingehören – und auch keine Drainage-Schläuche, nebenbei bemerkt -, sie stabilisiert mich, aber ich will sie nicht wirklich da haben, eine innere Krücke, aber ein Fremdkörper.

Die Wunderheilerin fragt, ob das Metall nicht auch Gold sein könnte, und ich muss innerlich ein bisschen grinsen darüber, wie schlau sie ist und prompt verwandelt sich das graue, kalte Metall in schmiegsames und warmes Gold.

Sie empfiehlt mir ein Buch über Imagination, in dem es heißt, man könne den Krebs besiegen, wenn man sich bei der Chemo vorstellt, wie die gestärkten T-Zellen ihre Arbeit verrichten. Ich bin sehr empört, weil es uns alle, die wir den Krebs eben nicht besiegen können, zu Versagern erklärt. Es mangelt uns an Imagination und deswegen sind wir in unserer Unfähigkeit auch noch selbst schuld. Aber ihr zuliebe bemühe ich doch meine Vorstellungskraft. Und prompt lösen sich aus der Stangenkrücke winzig kleine Goldkügelchen, die ganz quecksilbrig auf meine kleine Lungenmetastase zuschwimmen, und damit beginnen, sie zu verspeisen. Das wäre ein Witz, wenn beim nächsten CT die kleine Erbsenmetastase einfach weg wäre!

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