Das Haus war schon fast komplett leergeräumt und war dabei, seine Seele zu verlieren, die mit jedem, der hier gewohnt hatte und gestorben war, schon durchsichtiger geworden war. Da waren dann ein paar Tage, in denen ich nach München gefahren war, um noch Reste einzusammeln. Ich war alleine in dem Haus, das das Haus meiner Eltern, meiner Schwester, meines Onkels und meiner Großeltern gewesen war; meines war es nur, um seine Geschichte zu einem Ende zu führen. Ein großer Brocken fehlte noch: der 18-Schubladen-Schrank im Keller, den mein Vater und ich Jahrzehnte vorher zusammen eingeräumt hatten. Ein Tresen mit Aufsatz, der im Laden an der Seite gestanden war und dort mit den Kurzwaren gefüllt war, auf die das Textilwarengeschäft in seinen letzten Jahren heruntergebrochen worden war.

Als das Teil im Keller gelandet war, das muss in den frühen 70er Jahren gewesen sein, füllten mein Vater und ich die 18 Schubladen, je 6 in einer Reihe, mit Werkzeug, Schrauben und Dübeln, Nägeln, Scharnieren und was-weiß-ich-noch-allem und ich beschriftete sie mit Großbuchstaben auf Tesa-Krepp-Stückchen. Einige dieser Aufkleber hatten die Jahrzehnte überlebt und gleichen aufs Haar denen, die jetzt den neu befüllten und neu beschrifteten Schrank in meiner schöner Garagen-Werkstatt im Musikantenland zieren. In all meiner Unbeständigkeit gibt es immer wieder Dinge, die über Jahrzehnte gleich geblieben sind: Meine Schrift, meine Art, Dinge zu sortieren und das dann zu dokumentieren. Wohl vom Vater geerbt.
Da stand ich nun im Keller, in dem Raum, der immer der „kleine“ gehießen hatte, im Gegensatz zum benachbarten „großen“ Keller. Ich hatte mir große Mulltüten für Papier und Plastik bereitgestellt, einen Eimer für Altmetall und eine Kiste für Sachen zum Mitnehmen. Relativ schnell hatte ich einen Rhythmus entwickelt, in dem ich mir ein Schächtelchen griff, es öffnete und dann entschied, ob der Inhalt exquisit genug war, um aufgehoben zu werden, oder ob er in den Abfall gehörte. Links die Plastikschachtel in den Gelben Sack, rechts die Nägel in den Eimer, daneben der Altpapier-Karton. Nächstes Schächtelchen. Aufmachen, entscheiden, links, Mitte, rechts. Nächstes.
Und dann nahm ich das hier in die Hand:

Eines von diesen durchsichtigen Plastikkästchen, das man bekam, wenn man zum Beispiel im Kaufhof ein Silberkettchen kaufte. Da war dann in einer Art Watte das Schmuckstück eingebettet und der goldene (!) Aufkleber mit der Aufschrift „Echt Silber“ in Großbuchstaben. Aufmachen, entscheiden – die Metallstifte schienen mir nicht sehr aufhebenswürdig und landeten direkt im Altmetalleimer, und das Schächtelchen selbst sollte dann mit Schwung in den Gelben Sack, nur klemmte da noch Papier, Füllmaterial dachte ich im ersten Moment. Weil es festgeklemmt war im Schächtelchen und sich unerwartet papieren anfühlte, stutzte ich und versuchte mit steigendem Gepfriemel-Aufwand die, wie ich bald merkte, kleinen Umschläge rauszuholen.
Wir hatten – auch in diesem Keller – in einem kleinen Wandschränkchen ein altes Metallhandtäschchen, ein aus der Zeit gefallenes Accessoire für einen Opernbesuch, gefunden, das voller alter Münzen war. Keine von Wert, sondern eine Restesammlung, wie sie wohl in vielen Krimskrams-Schubladen zu finden ist, allerdings weiter in die Vergangenheit zurückreichend als üblich, meine ich. Deshalb hatten wir auch immer wieder mal spekuliert, ob mein Vater doch irgendwo noch Wertvolleres versteckt haben könnte. Er, der so lange auf der Hypo-Bank in der Kasse hatte stehen müssen und trotzdem wegen seines graumelierten seriösen Auftretens immer für den Direktor gehalten worden war, hatte auch privat ein paar Aktien gekauft und es hatte auch Münzen gegeben. Als meine Mutter, Marianne von Namen, nach seinem Tod ein paar Münzen zu Geld gemacht hatte, inklusive einer französischen, die als „Marianne“ bekannt war, und ihr in ihrer Gier die Bedeutung nicht aufgegangen war, war das eine der wenigen Situationen, in der ich es nicht einfach hingenommen, sondern sie rund gemacht hatte, wie es meine Söhne formulieren würden, aber das ist eine andere Geschichte.
Und? Was war jetzt in den kleinen Umschlägen?

2 Krügerrands und 3 andere, kleinere Gold- und Silbermünzen, die Beschriftungen auf den Umschlägen sind nicht in meines Vaters Schrift, sondern müssen von einem Kollegen auf der Bank gewesen sein. „356“ bezeichnet die Obermenzinger Filiale der Hypo-Bank. Also das pure Gold – und ein bisschen Silber.
Da stand ich an der Kellertreppe, umringt von Mülltüten, Kartons und Eimern, hielt diese kleinen Umschläge in der Hand und wusste sofort, dass er dieses Gold für mich versteckt hatte. Es konnte nur ich sein, weder meine Schwester noch meine Mutter wären je an diese Schubladen gegangen, sie waren weder an Werkzeug, Nägeln und Schrauben noch an den dazugehörigen Fähigkeiten interessiert gewesen. Ich erinnere mich an eine gewisse Abschätzigkeit mir gegenüber, dass ich nicht verstehen wollte, wie bequem das Leben sein kann, wenn man das Handwerkliche den Männern überlässt.
Ich holte die Metallstifte wieder aus dem Müll, packte alles und flüchtete aus dem Keller in die Essecke, da saß ich dann, rauchend natürlich, in Tränen zerflossen und spürte meinen Vater hinter mir stehen, freundlich, aber doch ein bisschen süffisant lächelnd schaute er mir zu, wie ich die Münzen auf den Tisch legte. Er freute sich darüber, dass ihm sein Coup gelungen war, dass auf mich Verlass war und ich das Ausräumen des Hauses nicht einem polnischem Trödeltrupp überlassen hatte und dann von diesen Münzen niemals etwas erfahren hätte. Da war er mehr als acht Jahre tot und belohnte mich aus einer irrealen Ferne mit real greifbaren Werten.

Wegen dieser Geschichte hat Dr. Sigismund mich mal mit Pippi Langstrumpf verglichen; ich verstand erst mal nicht, warum. Er erzählte mir, dass sie, wie ich, vom abwesenden Vater mit Gold versorgt wurde. Pippi hat eine Schatzkiste mit nicht enden wollenden Goldstücken drin, das hatte ich vergessen. Ich erinnere mich, dass ich die Pippi-Filme früher nicht gemocht habe. Uns war die Rolle von Tommi und Annika zugewiesen, dass wir nicht Pippi sein durften, war Eva und mir von vornherein klar. Wir wussten, dass wir uns mit den langweiligen Kindern aus wohlgeordneten Häusern identifizieren mussten.
Es gab etwas an Pippi, was ich nicht mochte. Als erstes waren es die Strapse, die waren zwar bunt und ausgelatschert, aber mich erinnerte das an die Western, die wir auch gerne schauten, wo die zwielichtigen Bardamen so etwas trugen. Das fand ich obszön und es stieß mich ab. Allerdings ist diese Art Blitz-Abwehr bei mir sehr verbreitet gewesen, ich ertappe mich dabei heute noch und vielleicht versteckt sich dahinter ein verbotener Neid auf das Laute und Freche, das Freie an ihr.
Ich habe kürzlich etwas über Pippi gelesen:
Pippi Langstrumpf ist ein einsames, verwahrlostes Mädchen, das dringend therapeutischer Behandlung bedürfte! Pippi Langstrumpf überspringt ihre eigene Hilfslosigkeit und Ohnmacht durch Kraftmeierei. Dieses Verhalten zu idealisieren, ist schlimm und geht an den Bedürfnissen von Kindern komplett vorbei.
„Die Töchter wollen nicht so ein Leben wie ihre erschöpften Mütter“ Michael Schulte-Markwort im Interview, Süddeutsche Zeitung Magazin, 05. Dezember 2022
Oha. So habe ich das nie gesehen, und ich glaube, damit bin ich bei Weitem nicht alleine. Diese Perspektive ist mir komplett neu. Ist das die Schattenseite der Freiheit und der Schatzkiste mit den endlosen Goldstücken? Dass Pippi in Wirklichkeit ein einsames Girlie ist und die Münzen nur der magere Versuch, ihr die Vernachlässigung zu versüßen? Sind meines Vaters Goldmünzen auch eine Entschuldigung gewesen? Nein, das hat er nicht so gesehen. Er war hier einfach nur ein Schelm, also ein Schlawutzi genaugenommen, mit einer Freude am Spiel, am Risiko als eine kleine Geste seiner Freiheit gegen all das brav und vorhersehbar sein.

Tja, und der 18-Schubladenschrank, eines der wenigen Teile, von dem zu trennen ich mich ernsthaft entschlossen hatte, musste dann natürlich doch mit, hier warten die Schubladen direkt an Haustüre gestapelt geduldig darauf, verladen zu werden.
Und heute ist er nicht nur angekommen, sondern auch eingewachsen in meiner Werkstatt:

Nicht mehr wegzudenken, im wahrsten Sinne des Wortes.
Jetzt, gefühlt in einem anderen Leben, sitze ich vorm Kamin und denke mich in mein Dornröschenzimmer, wo mein goldenes Saxophon mit einer neuen, vergoldeten Schraube am Mundstück auf mich wartet. So wie ich mich zum schwimmen gehen animieren kann, wenn ich an den Moment denke, in dem ich mit einem Sprung vom Startblock ins Wasser eintauche, so lockt mich der Gedanke an das Gold des Instruments die Treppe rauf zum musizieren. Das Gold meines Vaters ist zu meinem eigenen geworden und es klingt. Take five.