
Meine Schwester ist 2009 verstorben, einen Tag vor dem 18. Geburtstag meines ersten Sohnes und wenige Monate vor ihrem 50. Geburtstag. Die Wut darüber, dass sie mich verlassen und mit unserer Mutter alleine gelassen hat, obwohl wir doch den unausgesprochenen Deal hatten, als 80-Jährige zusammen in einem Oma-Café zu sitzen und uns über Erinnerungen auszutauschen, die nur wir beide dann noch teilen können, ist verblasst, wird aber wohl nie ganz vergehen.
Das dicke, sackartige Angst-Wollmaus-Knäuel, das in meinem Schlafzimmer in der Ecke haust, wird zu einem menschlich großen Gummibärchen, das sich plötzlich, – während Micha und ich händchenhaltend auf dem Bett sitzen mitten in meiner vor-Chemo-Panik-Attacke – in die Szenerie drängt und es verteilt die Karten und will mit mir UNO spielen. Es sitzt da wie Eva Schwesterherz früher in ihrem düsteren, engen Wohnzimmer in der Verdistraße (die Wohnung, in der sie mit ihrem damaligen Mann Sepp lebte und in der ich zu Studienzeiten für ein Semester Unterschlupf gefunden hatte). Damals, wenn ich mittags aus der Uni kam, saß sie oft dort, im Schneidersitz auf dem Boden, Patiencen legend, die Karten ordentlich verteilt, um sich gegen die Welt abzusichern.
Und dann verwandle ich mich in ein Monster, mit einem riesigen, in Stoff gepackten Elefantenfuß stehe auf der Verdistraße, dort wo zwischen Sparkasse und Shell-Tankstelle die Dorfstraße abbiegt und ihrem Namen Ehre machend quer durch die Eigenheimquadratur ins alte Dorf führt.
Diese Kreuzung ist nah bei Evas und Sepps altem Haus und ich stehe da und balanciere auf einem Tonnenbein und ich werde aus dem Gleichgewicht geraten, ich werde den zweiten Fuß irgendwohin setzen müssen und damit Häuser, Bäume, Autos und ängstlich zu fliehen versuchende Menschen zerstören. Zwischen den Bäumen der Dorfstraßen-Allee sehe ich eine junge Frau an ihrem Haus, wie sie versucht, ihre Kinder ins Auto zu verfrachten, um noch schnell unter meinen tödlichen Füßen wegfahren zu können. Verzweifelt versuche ich ein Ausweichen zu finden, will zum weiten, grünen Durchblick, wo ich meine Tonnenfüße schadlos hinsetzen könnte, doch es zieht mich wie an einem gespannten Gummiband zurück, ich versuche, die Zeit anzuhalten, um mich nicht bewegen zu müssen, aber kann ich das?
Dann plötzlich Szenenwechsel. Ich sitze mit Eva auf klassischen grünen Biergarten-Klappstühlen in ihrem Restgarten an der zum Autobahnanlauf verkommenen Verdistraße, die Holzwand zur Shell-Tankstelle hin mit Dornengestrüpp überwuchert. Sie sitzt aufrecht, lauernd, wartet, dass ich etwas sage, dass sie lächerlich machen kann, etwas, wo sie ihren Skorpion-Stachel einsetzen kann. Und sie grinst mich an, wissend, dass ich weiß, was sie vorhat und aus der braven, verhaltenen Steffi wächst dasselbe Grinsen zurück. Das kann ich auch. Dann sitzen wir da in schwesterlichem Grinsen und plötzlich wachsen uns Libellenflügelchen, wir werden zarte kleine Elfen, hell, und als wir gemeinsam in den Himmel fliegen, werden wir immer durchsichtiger und kleiner, bis wir nicht mehr zu sehen sind. Ich bleibe zurück, zu normaler Größe geschrumpft sitze ich im Schneidersitz auf dem Gehsteig an derselben Kreuzung, die ich eben noch mit meinen Riesen-Tonnen-Füßen zu zerstören drohte. Sie hat mit mir den Stachel geteilt, sie hat mir die Zwiderwurzn geschenkt und ich hab‘ ihr dafür das kleine Steffi-Libellchen mitgegeben, dass sie dort auf der anderen Seite nicht so alleine sein muss. Vati hilft ihr dort ja nicht aus der Einsamkeit, der muss ja widerwillig herangezerrt werden, da ist mein Libellchen ein schwesterliches Immer-da-sei.
