Es sind auf den Tag genau fünf Jahre. Heute vor fünf Jahren haben sie mir ins Lungenfell gebohrt, um eine Gewebeprobe zu entnehmen und bei der Gelegenheit einen von anderthalb Litern Pleuraerguss abgelassen. Weil sie grade dabei waren, haben sie auch einen Teil der vom Krebs verwucherten Pleura mit entfernt, wieviel genau habe ich nicht erfahren, geredet haben sie dort eher weniger mit mir. Und einen Schlauch haben sie mir gelegt, der sich als Dauerdrainage etablieren sollte. Das ging so gründlich daneben, dass ich knapp an der Sepsis vorbeigeschrammt bin, und mein Überleben anscheinend genauso knapp war. Das weiß ich heute, damals war ich mit schlafen, abtauchen in und auftauchen aus gruseligen Alpträumen beschäftigt, unterbrochen von Versuchen, die überlasteten Krankenpflegerinnen dazu zu bekommen, mein eigentlich immer komplett nassgeschwitztes Bett trocken zu legen.
Fünf Jahre. Damit auch fünf Jahre rauchfrei, übrigens. Bei den nicht-metastasierten Krebsdamen wäre ich jetzt ein Survivor mit auf Normalmaß reduziertem Krebsrisiko. Das gibt’s bei uns Metastasenbewohnten ja nicht, aber ich empfinde es trotzdem als einen Meilenstein. Für „Survivor“ wird im Deutschen der Begriff „Langzeitüberlebende“ gebraucht, das trifft es dann schon.
Also sollte ich dankbar sein, vielleicht auch ein bisschen stolz, weil ich ja selbst auch einiges dazu beigetragen habe, aber ich bin traurig.
Ich hatte ja große Geheimpläne, die mir doch ein langes Leben bescheren sollten. Wenn Kisqali nicht mehr wirken sollte, dann nehme ich halt ein paar Jahre Ibrance und nach einigen weiteren Jahren dann den 3. von den CDK4/6-Inhibitoren, dessen Namen ich mir nicht merken kann, und bis dahin haben die schon wieder was Neues erfunden oder so. Den Zahn habe ich grade gezogen bekommen, weil mich der Onkologe darüber aufgeklärt hat, dass als Nächstes eine Chemo käme, weil, wenn ein CDK4/6-Hemmer nicht mehr wirkt, dann ist man mit allen durch. Doof aber auch.
Ich weiß, wie schlecht es vielen meiner Kolleginnen mit metastasiertem Brustkrebs geht, ich sehe auch, wie viele von uns jedes Jahr sterben, aber das hindert mich nicht daran, dass ich noch lange leben will und am Liebsten so nebenwirkungsfrei wie zur Zeit. Ich will noch so viel erleben, will mit dem Wohnmobil in die Normandie, mit meinem Mann nach Athen, der magischsten aller Städte, fliegen, mit meinen Söhnen Burgruinen erklimmen, mit der besten Freundin von allen Fahrradtouren unternehmen, mit und ohne Hund und will meine Bacherburg fertig – na ja, weiter – renovieren. Die sogenannte Löffelliste wird eher länger als kürzer. Und außerdem muss ich unbedingt noch besser Sax spielen lernen.
Ich habe kürzlich einen Artikel über das Glücksparadoxon gelesen, da geht es darum dass auf der ganzen Welt Menschen über 60 trotz Krankheit, Schmerzen und zunehmendem Verfall und was-weiß-ich glücklicher sind als alle andere Altersklassen. Genau so geht es mir. Der Spruch vom „Das Leben an den Hörnern packen wollen“ geistert mir immer wieder durch den Kopf. Und als das jetzt bedroht schien, weil das letzte Kontroll-CT uneindeutig war, hat mich das in schmerzhafte Trauer gestürzt. Es soll einfach noch nicht zu Ende gehen, es ist grade so schön hier!
Ja, ich weiß, es gibt noch soviel andere Therapie-Optionen und ich weiß, ich würde mich auch mit dem nächsten Set an blöden Nebenwirkungen am Ende arrangieren und einen Weg finden, trotzdem wieder in einen lebenswerten Alltag zu finden, ja, ich weiß. Aber trotzdem: Kann es nicht einfach so bleiben, wie es grade ist?
Neben dieser allumfassenden Trauer gibt es auch kleine Trauerstückchen. Ich hatte in diesen tätigen Wochen im Sommer so ein wohliges Gefühl, wenn ich zwischendurch beim Arbeiten einen Blick auf meine Hände geworfen habe. Beim Schleifen, beim Stricken, beim Garteln, beim Massieren und natürlich manchmal im Spiegel beim Saxofon spielen. Es macht mich auch traurig, dass das mit den bleibenden Schmerzen der „schweren Daumensattelgelenksarthrose“ die Bewegungen nicht mehr so frei fließen. Ich kann vermutlich noch genau so viel wie vorher – genau weiß ich’s nicht, weil ich mich ans Stricken noch nicht wieder getraut habe – und die Schmerzen sind sehr dezent, wenn ich die Schiene trage, aber nichtsdestotrotz: Ich vermisse die Anmut der erfahrenen Geschicklichkeit. Die gab es übrigens auch beim Drehen von Zigaretten, früher mal.
Was mich auch traurig macht, ist, dass die Musik so spät in mein Leben getreten ist. Bei fast jedem Konzert, das ich besuche, kommt der Moment des im-nächsten-Leben-werde-ich-Jazzsaxofonistin-und-dann-spiele-ich-in-so-einer-Band! Und in diesem nächsten Leben fange ich mit ca. 8 Jahren an, Sax zu spielen, werde Riesen-Spaß dabei haben und werde meine Kinder in einem Haus voller Klänge und Musikinstrumenten aller Art aufwachsen lassen. Es ist, als wäre das Musizieren eine eigene Dimension. Ja, ich weiß, es ist wundervoll, dass ich das jetzt noch erlebe, aber trotzdem wäre es schön gewesen, wenn das Leben und auch die Kindheit meiner Söhne davon erfüllt hätte sein können. Ich habe im Internet mal ein Snippet einer israelischen Sängerin gesehen, deren Namen ich leider vergessen habe. Es war aus dem Alltag mit ihren kleinen Kindern und da wurde einfach immer gesungen, die Zweijährige war voll dabei und das Baby hat auch schon mit gesummt.
Ich sehe grade vor meinem geistigen Auge die ungläubigen Blicke meiner Söhne: „Spinnt sie jetzt total?“. Ein schlechtes Gewissen muss ich deswegen eher nicht haben, aber es hätte doch schön sein können, wenn gegen die Stummheit meines Elternhauses das Haus meiner eigenen Familie vor Tönen übergequollen wäre.
Okay, ich darf heute zur Feier des Tages auch mal traurig sein. Und jetzt geh‘ ich mal schauen, ob ich diese Traurigkeit aus meinem wunderbaren neuen alten Saxofon raustönen lassen kann.

Liebe Stefanie,
ich hoffe, dass ich Dich duzen darf, sollte Dir das nicht recht sein, einfach kurz Bescheid geben.
Ich weiß eigentlich gar nicht recht, was ich Dir schreiben soll, aber ich hatte schon die ganze Zeit das Bedürfnis, zumindest ein paar Worte hier zu tippen.
Deine Blogbeiträge (ist das die richtige Bezeichnung?) lese ich immer mit viel Begeisterung und auch immer mit einem Quäntchen Traurigkeit und Betroffenheit. Wir sind ungefähr im selben Alter (ich weiß Deines leider nicht mehr genau) und auch ich hatte es schwer mit meiner Ursprungsfamilie und musste teils tiefe Einschnitte im Leben verkraften. Bei der therapeutischen Aufarbeitung stehe ich leider erst am Anfang. Und meine Erinnerungslücken machen das Ganze auch nicht einfacher. Aber ich hoffe, dass mir diese Therapien helfen werden.
Ich wünsche Dir weiterhin viel Kraft und drücke Dir die Daumen, dass Du die Ziele, die Du auf Deiner Liste hast, erreichst!
Ganz liebe Grüße
Christin Späthling
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Liebe Christin, das freut mich sehr. Ein Grund, warum ich das alles veröffentliche, ist natürlich, dass es raus muss, aber wenn ich bei Menschen, denen es ähnlich ging und geht wie mir, etwas anstoßen kann, freut mich das besonders.
Schreibst du Tagebuch oder so was ähnliches? Mich begleitet das seit Jahren und es hilft mir immer wieder, auch beim Schließen von Erinnerungslücken, übrigens. Manches liegt zu weit in der Kindheit, als dass wir mit dem Kopf noch drankommen könnten, also mit der Sprache, aber Bilder kann es sogar da geben.
Ich wünsche dir gutes Gelingen bei der Therapie, ich denke gerne an meine zurück, obwohl es währenddessen manchmal auch sehr schwer sein konnte…..
Und: ich bin 61 😉
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