Willy Weidemann – Wurmperspektiven

„Wurm“ sagte ich, „armer Wurm – – jetzt holt dich der Teufel“ da schaute er schon heraus, aus seinem Apfelloch. Der Wurm nämlich. Elfenbeinernen Angesichts und von netten, betunlichen Manieren. Er konnte einen so treuherzig anschauen, dass man ganz schwummelig wurde davon.

Flüsternd-schonend bereitete ich ihn darauf vor, dass er jetzt umgebracht werden sollte.

Da begann er dermassen aufgeregt zu wedeln, wie ein Tillergirl mit einem einzigen Bein. Sein Gesicht dünkte mir plötzlich unsagbar traurig – – –

Das aber war ein grosser Irrtum, denn was ich bisher für sein Gesicht gehalten hatte, erwies sich bei näherer und scharfäugiger Betrachtung als das Gegenteil. Was nämlich bei einem Wurm hinten und vorne ist, das entdecken vielleicht nur ganz ausgekochte Wurmforscher auf den ersten Blick. Jedenfalls war mir durch diesen Hereinfall Lust und Liebe zu derlei unterschiedlichen Beobachtungen ziemlich vergangen.

Ich packte ihn ganz sanft um die Hüften, um ihn irgendwohin ins Nichts zu schleudern. Da zwickte er mich in höchster Not in den Zeigefinger, trotzdem er höchstens 4, 38 millimeter lang und von schmächtiger Statur war und sein Gebiss das lächerlichste war, das mich je in den Finger gebissen hat.

„Zwick nur!“ rief ich ironisch, „bald wirst du ausgezwickt haben!“

Da erblasste er und das tat mir dermaßen leid, dass ich ihn unter die Lupe nahm. Nun sah er aus, wie ein gräuliches Fabelwesen, wie ein Rhinozeros ohne Füsse und mit einem furchtbaren elfenbeinern Schwanz, den er übrigens in unaufhörlicher Raserei hin und herpeitschte.

Plötzlich entdeckte ich ganz deutlich, dass er zu sprechen sich unterstand. „Ich verstehe kein Wort!!!“ schrie ich. Und so war es auch. Allerdings, nachdem ich mein Ohr ganz nahe an seinen Mund gebracht hatte, verstand ich einiges Seltsames. So ungefähr:

„ – – zrkkns Opflaus“ immer wieder das gleich: „zrkkns Opflaus, zrkk….“. Sowas verrücktes. Vermutlich eine Art Wurmslang????

Schulterzuckend beförderte ich ihn auf seinen Apfel retour.

„Na also!“ sagte er plötzlich ganz laut und unverschämt und wollte schnell in sein Loch hinein verduften. Gerade, dass ich ihn noch beim Schwanz erwischte und um Aufklärung bitten konnte:

„Inwiefern ’na also‘ – ? und was heisst zrkkn Opflaus? – bitte!!“

Er betrachtete mich ziemlich von oben herab und brüllte:

„Zurück ins Apfelhaus sag ich doch schon immer! Aber sie scheinen mir etwas schwer von Begriff!?“

Das war nun ein heikles Thema. Doch er musste es gemerkt haben und lenkte ein: „Nota bene – – versetzen sie sich doch einmal der Wissenschaft halber in die Wurmperspektive! Es wird sie nicht gereuen!!“

Mit Freuden wollte ich das. Aber wie??

„Ganz einfach! Sie wissen doch wie man sich aufplustert? – Oder?“

Das war mir nicht unbekannt. – Aber??

„Nichts ‚Aber‘ – Sie müssen gerade das Gegenteil davon machen!!! – Kapiert?

„ –hm, also gewissermaßen abplustern?“

Er nickte und ich begann mich empfohlenermassen abzuplustern.

„Es geht nicht!“ wie ich leider gestehen musste.

„Nur nicht luck-lassen!“ flüsterte er wichtigtuerisch aufmunternd.

Nicht ‚luck‘-lassen? Komische Ausdrücke – – aber bei aller empfundenen Komik verspürte ich bereits so etwas wie eine ganz sanfte Art von Podagra, es kribbelte ganz eigentümlich von der großen Zehe aufwärts…

Plötzlich tat es einen Krach. Meine Stiefel waren zu Boden gefallen. Die Hose und alles andere folgte nach und mit einem mal hatte ich weder Füße noch Arme mehr und schrumpfte nur mehr so dahin. Alles um mich herum begann ungeheure Dimensionen anzunehmen und schliesslich lag ich lang und bäuchlings auf der Tischplatte und fühlte mich äusserst minimal unbedeutend und klebrig. Der Weg auf der Tischplatte zog sich schier ins endlose und ich hätte weissgottwas um ein Wurmfahrrad gegeben….

„Verflucht nochmal!“ begrüsste mich mein Kollege endlich aus seinem Apfelloch heraus „es zieht scheusslich hier! Beeilen sie sich bitte ein wenig“ (er respektierte trotz Allem den Menschen in mir!) Im Uebrigen benahm er sich äusserst nett, zeigte mir gleich eine Fresstelle, die gutdurchwachsen und von so recht kernigem Biss war. Unter guten Appetit-wünschen wollte er sich auf die Socken machen. „Wohin?“ frug ich, etwas unbescheiden. Da rückte er denn heraus, dass er schon lange auf eine dermassen günstige Gelegenheit gewartete hätte, um sich seinerseits und vergnügungshalber in einen Menschen zu verwandeln – – „Warum auch nicht? – „ sagte ich, der Hausschlüssel befände sich in meiner linken Hosentasche. Darauf kroch er, voll der Erwartungen davon und ich machte mich daran, unseren Apfel zu unterminieren, der nebenbei bemerkt nicht schlecht war. Einigermassen satt, überdachte ich meine Lage und fühlte mich ohne Übertreibung so wohl, wie ein pensionierter höherer Beamter, der seine Pension selbst bei grösster Anstrengung nicht auffressen kann. Ich frass und schlief und setzte hie und da ein Pünktchen zu den vielen schon vorhandenen, und alles in allem war das ein Dasein ganz nach meinem Geschmack. Ein kreuzzufriedenes Spiesserdasein ohne alle Fährnisse…

So ungefähr dasselbe wie wenn ich als Mensch in einem überlebensgrossen Schweinsbraten gewohnt hätte. Eher noch besser. Denn zuviel Schweinefleisch vergiftete den Darm, während mir der Apfel hier so wohl bekam, wie überhaupt noch nichts im Leben.

„Nie wieder Mensch!“ das beschwor ich und hub neuerdings zu fressen und zu schlafen und schliesslich vor lauter Wohlbefinden sogar zu singen an: ‚So ein Wurm der hat ein Leben, kanns denn was schöneres geben – – ‚ und als ich eben wieder einmal meinen Wurmwalzer dahinträllerte, wankte völlig unerwartet, mein Kollege und Vorgänger zum Loch herein, schlaff, gebrechlich und hundsmager, wie ein vom Hungerödem Befallener, und sein Gruß war überhaupt blos ein Hauch.

Immerhin fragte ich anstandshalber, wie es ihm denn gefallen hätte? Draussen nämlich. Unter den Menschen. „Diese Kreaturen!! knirscht er und spuckte verächtlich zum Loch hinaus. Er sei fast verhungert – –

„Ja, natürlich“ sagte ich, „so ein Wurmdasein ist doch ganz etwas anderes. Man hat seinen soliden Hintergrund, man braucht weder Schuhkreme, noch Butter aufs Brot, noch Angst zu haben, dass die Gasrechnung zu hoch anschwillt. Kurzum! Es ist zwar ein einfaches ich möchte sagen unbedeutendes Dasein, aber man weiss was man hat -„

„Wurmdasein?“ knurrte er „Herrgott, was reden sie denn immer per Wurm?? ‚Pomonella‘ bitte schreibt sich unser Madengeschlecht!“

„Pimpernella hätte mir besser gefallen“ musste ich gestehen, aber derlei haarspalterische Feinheiten liessen ihn kalt.

Weiter frass er, dass es nur so knirschte und seine Flanken sich zusehends wölbten. Alsbald begann er wieder Fett anzusetzen, wurde rund und prall, dass es eine Freude war. Leider zeigte er sich auch ansonsten von allfällig verändertem Wesen, führte arrogante, versteckt-anzügliche Redensarten und fluchte über jede Kleinigkeit.

Eines Tages blieb er sogar vor einem jener schon öfters erwähnten Pünktchen stehen, schüttelte den Kopf und flüsterte höhnisch: „Ein schlechter Vogel der sein eigenes Nest beschmutzt!“ Keine Frage. Er wollte mich hinausbeissen. Ich liess jedenfalls das persönliche dieser Angelegenheit auf sich beruhen und bemerkte, dass es sich hier eben um individuelle Eigentümlichkeiten des Wurmlebens handle. „Ha-“ lachte er unverschämt, ob er vielleicht meinetwegen ein WC einrichten lassen soll? Das wurmte mich nun doch. Ein Wort gab das andere und schliesslich nannte ich ihn einen erbärmlichen Wurm. Daraufhin wurde er käsebleich im Gesicht und starrte mich dermassen tückisch und hasserfüllt an, dass ich es bis ins letzte Glied meines Wurmleibes spürte. Plötzlich begann er wie ein Irrsinniger zu wüten, zerfetzte das Kernhaus, das es nur so krachte, und rückte schliesslich mit einem Apfelkern an, in dem wir beide mitsammen zwanzigmal Platz gehabt hätten, ein solcher Koloss war das – – ‚Hah, er will ich zermalmen‘ dachte ich, und krabbelte schnell einige Längen seitwärts, dem Ausgang zu. Und ehe ich nur ahnen konnte, was er wirklich im Sinn hatte, war das Loch verrammelt. Mit jenem Apfelkern. ‚ Das ist das Ende, das Ende, das Ende -‚ Das war alles was ich noch denken konnte. Dann kroch ich vollends hinaus und schlüpfte wieder in meine alte Menschenhaut. Ungewohnt des Gebrauches menschlicher Gliedmassen, wankte ich im Zimmer herum, missvergnügt und abhold allem menschlichen Dasein. Ich gewöhnte mich sozusagen erst löffelweise wieder daran. Ganz werde ich mich wohl überhaupt nie daran gewöhnen.

Der Tag war trüb, die Sonne schlich faul und hinterrücks am Himmel dahin, und alles, wohin ich auch blickte, war fahl und trüb, in jedem Sinne, und im Schlüsselloch steckte die neue Gasrechnung.

P.S. Jener Wurm (im Wurmadressbuch unter ‚Pomonella‘ registriert) starb übrigens bald darauf, mangels geregelter Sauerstoffzufuhr, wie die klinische Obduktion ergab. Im übrigen war er Analphabet.