Die Hexe, eben die, die den fünfjährigen Jungen verschlungen hatte, sitzt oben links in der Ecke einer schwarzen Box, ähnlich einem dieser Holzkästen, in denen man als Geschicklichkeitsspiel eine Kugel an Löchern vorbei navigieren muss, und pisst das schwarze Gift in die Bahn des Labyrinths. Von ihr aus fließt die Schwärze langsam nach unten, vorbei an drei Balken, die aus schwarz-grauen Keramikplättchen in Ziegelformat bestehen. Die Plättchen kenne ich, die waren an den Wänden des kleinen Klos im Karwinkel. An jedem Balken klärt sich das schwarze Gift zu immer heller werdendem Wasser, am Schluss blau leuchtend.
Der erste Balken ist die Einsicht in die Verwundbarkeit und Sterblichkeit, die mich einige Tage der übergeschnappten Euphorie gekostet hatte. Ich hatte mir beim Versuch, meinen Schlafzimmervorhang von der Stinkwanzeninvasion zu befreien, meinen Fuß mit zuviel Schwung gegen den Kleiderstuhl gestoßen und mir dabei den zweitkleinsten Zeh gebrochen. Nach einem freitagnachmittäglichen Besuch in der Ambulanz des nächstgelegenen Krankenhauses humpelte ich mit einem schwarzen Schutzschuh herum, stolz meine Wunde zeigend.
Der zweite Balken, nach dem das Wasser schon fast durchsichtig wurde, ist die Schaschlikspieß-Szene, das „gruseligste aller Gruselbilder“ heißt es in meinem Tagebuch:
Ich bin in einer Art Laden in einer düsterbraunen abendlichen Straße im Berlin der Zwanzigerjahre – wieder einmal Babylon Berlin – und mit schnellen, professionellen Handgriffen führt ein sehniger, tätowierter Mann eine Art gebogene Schaschlik-Spieß-Nadel durch meine diversen Nebenhöhlen. Kein Blut, kein Schmerz, aber am Ende ragt der Griff eines Schaschlik-Spießes senkrecht auf meiner Stirn. An der Decke des Ladens Metallschienen, an denen kleine Haken entlanglaufen, die mich zu totaler Bewegungslosigkeit verdammen würden, aber ich werde nicht drangehängt. Nur kann jetzt einfach jeder mich am Spieß packen und mich in absolute Starre verdammen, keinen Millimeter Bewegungsfreiheit dann und jeder kann es mir ansehen, dass er mich zur absolut hilflosen Marionette machen kann. Dann, wie oft in diesen Szenen, rutsche ich in eine andere Perspektive und sehe den Laden von außen, ich stehe da als einer der hunderten Statisten im braunen Anzug, schemenhaft. Der Laden ist noch beleuchtet, aber der Täter ist nicht mehr zu sehen.
Und der dritte Balken sind die großen schwarzen Schwingen, die mich umfangen halten, wenn ich Steinei-Panik habe, ein anderes sich wiederholendes Bild. Als aus dem Nichts der Depression erste Gefühle aufgebrochen waren, hatte ich ein aufbrechendes Stein-Ei gesehen, aus dem ein kleiner Drache hervorlugte, mehr ein Verweis auf das Urmel der Kindheit, als dass ich befürchten musste, von einem feuerspuckenden Monster verletzt zu werden. In Paniksituationen umschließt mich dieses Ei mit seinem Betongrau und wenn es dann nach Tagen langsam wieder bröckelt und ich in meiner, dann sehr dünnhäutigen Verletzlichkeit wieder durchzuschimmern beginne, dann gesellen sich dazu die schwarzen Flügel, die mir Schutz bieten, vielleicht des Doktor Sigismunds ausgebreitete Raben-Schwingen.
Jeder Balken fühlte sich an wie ein weiterer Schritt in Richtung Befreiung und Heilung. Inmitten des Grusels war sie zu finden, die Klärung, nach der ich mich so gesehnt hatte, und die ich jetzt sehen konnte, auf einmal ganz ruhig.

