Links mein Mannheimer Klinikum, rechts das Hochwasser des Neckar

Mein Krebs, der kleine Drache

Erst jetzt, wo der Krebs frech geworden ist und trotz dem mir ans Herz gewachsenen Kisqali eine Metastase hat wachsen lassen, merke ich, welche Sicht ich die Jahre auf ihn hatte.

Nicht als Kind, erst als Teenager oder sogar erst als junge Studentin hatte ich ein Büchlein, das von einem kleinen Jungen handelte, auf dessen Bettkante eines Morgens ein kleiner, orangeroter Drache saß. Aufgeregt erzählte er es seiner Mutter, die ihn zwar auch sah, aber nicht sehen wollte: „Drachen gibt’s doch gar nicht“. Schwupp, war er ein Stück größer, und als auch der Vater ihn nicht sehen wollte, wuchs er, schwupp-di-wupp, gleich wieder ein Stück. Ich finde das Buch grade nicht, deswegen muss ich aus meiner Erinnerung berichten, aber die Kleinfamilie schrammt knapp an einer Katastrophe vorbei, der Drache füllt irgendwann das Haus aus, der Kopf mit dem langen Hals ragt zur Haustür heraus und die Pfoten aus den Fenstern, wenn er nicht sogar, wie eine Schnecke mit dem Haus auf dem Rücken, losläuft. Der kleine Junge fasst sich endlich ein Herz und ruft: „Drachen gibt es wohl!“ und schon fängt er an zu schrumpfen und mit jeder Zuwendung und dann sogar dem eigenen Fressnapf wird er wieder Mieze-Katzen-groß und darf bleiben, wohlgenährt und von allen beachtet und bekümmert.

Genau so bin ich mit meinem Krebs umgegangen, habe ihn brav mit wechselnden Tabletten gefüttert. Aromatasehemmer, zuerst das gelbliche Letrozol, später dann die kleinen Exemestan-Dragees und der CDK4/6-Inhibitor Kisqali, Tabletten in einem unangenehmen grau-lila-Farbton, die ich erst gefürchtet habe wegen der beängstigend lange Liste der Nebenwirkungen und jetzt liebe, weil es aus uns palliativ-versorgten Patientinnen chronisch Kranke gemacht hat. So mit Lebenserwartung. Und Lebensqualität. Das war für mich der Deal: Er wird gefüttert und beachtet und dafür hält er still. Das hat sehr lange sehr gut funktioniert, gewachsen ist er nur irgendwann, nachdem ich über einen längeren Zeitraum Kisqali abgesetzt und ihn damit auf Diät gesetzt hatte. Ein wundersames Phänomen meines Krebses war ja auch, dass er schon in den Wochen zwischen der Diagnose und dem Beginn der Therapie das Wachstum eingestellt hatte. Alleine das gesehen-werden hatte zu einem Stillstand geführt, wie beim kleinen bunten Drachen.

Und jetzt wird er frech. Lässt eine Metastase im „BWK11“ wachsen, das müsste so ziemlich genau in der Mitte des Rückens sein.

Die wird bestrahlt und in Vorbereitung dazu bin ich bei einem CT markiert worden mit einem blutrot leuchtenden Stift und trage jetzt drei Fadenkreuze auf meinem Körper, der Drache ist zum Abschuss freigegeben. Der erwartete große Schrecken angesichts einer wachsenden Metastase, genau das, was wir bei jedem Staging-CT fürchten, ist bei mir ausgeblieben und es hat gedauert, bis mir klar wurde, warum (also abgesehen von den kleinen Beruhigungsbrocken des es-ist-nur-EINE-Metastase, es-ist-nur-eine-Knochenmetastase, es-ist-keine-neue-Metastase….). Es ist die Erleichterung, dass ich nach jahrelanger, braver Beherrschung, in denen ich alltäglich den Krebs voller Geduld besänftigt habe, immer freundlich zu ihm gewesen bin, und dabei konsequent ignorierend, in welche buchstäbliche Lebensgefahr er mich gebracht hatte, ihm jetzt mal eins auf die Mütze geben zu können. Möge es ihm eine Lehre sein.

Jack Kent. Drachen gibt's doch gar nicht. Ravensburger Taschenbücher, 1978

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