Ich versuche, meinen Söhnen zu erklären, wie es damals war mit meiner Mutter und meiner Schwester in meinem Elternhaus, woher es kommt, dass für mich die Nähe, die ich suche und brauche, bis heute noch angstbesetzt ist und greife zu den drastischen Geschichten und Erinnerungen, von denen ich einige schon in meinem Tagebuch verewigt habe, die ich aber hier nur verklausuliert in Zwischenreichsfilmszenen präsentiert habe. Ich wollte die Demütigungen und Niederschläge in edler Zurückhaltung begraben, aber das ist genau der falsche Weg.
Dann treffe ich eine gute Bekannte, aus der es mitten in der Tiefe eines allumtönenden Konzerts herausbricht und sie anklagend berichtet, wie sie sich von ihrer Mutter beschimpfen lassen muss, wenn sie alle vier Wochen einmal quer durch die Republik reist, um ihr das Haus zu putzen, weil es so schwer ist, eine Putzfrau zu finden und die Mutter nur klagt, was für eine schlechte, nichtsnutzige Tochter sie sei. Das ist es, denke ich mir, rausbrüllen müssen wir es, es muss ans Licht, damit es nicht weiter im Dunkel des Thorax modern und schmoren kann. Raus muss es, damit die Söhne verstehen können, warum ich war, wie ich war und bin, wie ich bin.
Das Dreieck von meiner Mutter, meiner Schwester und mir ist nur eine Perspektive auf mein Leben im Karwinkel, aber dieses Fädchen nehme ich jetzt mal auf.
Meine Schwester war bei der Geburt beinahe gestorben. Es gibt verschiedene Varianten dieser Geschichte, entweder war sie mit der Hand an der Plazenta festgewachsen oder die Hand wurde verletzt, als man versuchte, sie mit der Zange herauszuholen. An die Narbe auf ihrem Handrücken kann ich mich erinnern. Alle Versionen dieser Erzählung endeten immer damit, dass die Schwestern des Dritten Orden den Arzt zu spät geholt hatten, weil es Sonntag war und sie sich nicht getraut hatten, ihn zu stören. So verbrachte Eva ihre ersten Wochen in der Lachnerschen Kinderklinik, wenn der Klang meiner Erinnerung mich nicht täuscht. Dieser Lebensbeginn hat das Motto gesetzt: Sie war die Kranke, die besonders beschützt und umsorgt werden musste. Das hätte sich ändern können, als sie mit 18 oder 19 zu ihrem Freund und späteren Ehemann Sepp zog, aber prompt dann bekam sie zu genau dieser Zeit Diabetes Typ 1, der sie wieder zurück in die mütterliche Be- und Überwachung warf. Von da an war es für uns alle in der Familie ein ehernes Gesetz, dass wir alle zwei Stunden etwas essen mussten, die berühmte Zwischenmahlzeit. Ich erinnere mich, dass ich im ersten Semester in Heidelberg meine Kommilitoninnen in Erstaunen versetzte, weil ich Panik bekam, wenn ich zwischen zwei Veranstaltungen nichts mehr zu essen bei mir hatte. Diese Regel war wie die zwei Backen einer Zange: Ich musste sie befolgen, um nicht selbst zuckerkrank zu werden, wohl wissend, dass das nur als abergläubisches Ritual Funktion hatte. Und ich musste mit Eva solidarisch sein, die Zumutung, die es bedeuten könnte, nach der Uhr essen oder immer Traubenzucker mit sich herumtragen zu müssen, musste gerecht auf alle verteilt werden, damit sie sich nicht zurückgesetzt fühlte.
Aus dieser Zeit stammen die Berichte meiner Mutter über ihre Kirchenbesuche, in denen sie in aller Anschaulichkeit schilderte, wie sie Gott darum angefleht hatte, Eva von der Krankheit zu befreien und sie damit zu beladen. Wo die eigene Macht nicht hinreichte, musste dann Leiden Christi bemüht werden. Sie hatte, wenn sie so etwas erzählte, so einen Seitenblick, gefühlt von schräg unten, mit dem sie meinen Blick einzufangen versuchte, ob ich auch begriff, was sie mir damit sagen wollte. Ich habe es nie begriffen, ich war zu sehr damit beschäftigt, sie nicht merken zu lassen, wie abstoßend ich das fand. Es kringelt mich heute noch, wenn ich es niederschreibe.
Das ist der eine Schenkel des Dreiecks, in das ich eingespannt wurde wie in ein Drahtgestell: Mein Leben danach auszurichten, dass die große, schwache Schwester geschont wird.
Anfangen muss ich aber eigentlich viel früher: bei meiner Mutter.
Es gibt eine Geschichte, die sie mir wieder und wieder erzählt hat: Sie hat im Dessous-Geschäft Lange am Odeonsplatz die Buchhaltung gemacht (ich habe ihre Zeugnisse gefunden und daher weiß ich, dass sie für diesen Job ihre Stelle in der Universitätsbuchhandlung aufgegeben hatte, das nur am Rande, aber mit Kopfschütteln) und ihr Vater hat auch in der Stadt gearbeitet. Zum Feierabend sind die beiden auf einen Schoppen Wein gegangen, Schopperl war ja auch ihr Spitzname. Sie wussten, dass seine Frau, also ihre Mutter, zuhause mit dem Abendessen auf sie wartete und haben sich einen Spaß daraus gemacht, sie warten zu lassen. Ich fand das gruselig, meine Oma hat mir so Leid getan und der Genuss, mit dem sie mir diese Geschichte unterbreitet hat, hat dem noch eins drauf gesetzt. Nachdem meine Schwester gestorben war, wollte meine Mutter einmal unbedingt mit mir alleine essen gehen, in den Grünen Baum, wie ich mich erinnere. Sie hatte sich etwas vorgenommen und mir genau diese Geschichte noch einmal erzählt und natürlich die, dass ihr Vater damals aus beruflichen Gründen in die Nazi-Partei hat eintreten müssen. Derselbe, der bis 1938 bei einer jüdischen Bank angestellt war und 1932 in die Partei eingetreten war. Weil ich spürte, dass dies eine besondere Gelegenheit war, habe ich versucht, ihr noch andere Geschichten zu entlocken, weil ich diese schon zu gut kannte, und ihnen nichts mehr abgewinnen konnte, aber sie beharrte auf dieser. Ich habe erst im Lauf der Jahre verstanden, wie zentral diese Anekdote war. In ihren letzten Wochen, als sie ihr Bett im Wohnzimmer am großen Fenster zum Garten hatte, mit Blick auf das Blumenmeer, das ich ihr auf der Terrasse bereitet hatte, sehe ich sie vor mir, wie sie das Foto von ihrem Vater abbusselt und mit einem theatralischen Seitenblick zu mir ein „Bald bin ich wieder bei dir, Papili!“ ausruft. Je länger das alles her ist, um so weniger verstehe ich, wie ich das ertragen habe, heute schüttelt mich es, wenn ich das hier aufschreibe.
Ich sehe anhand der Fotos, die ich von ihr habe, wie grundlegend sie sich schon mit Evas Geburt verändert hat. Es gibt frühe Fotos, wohl aus der Zeit, als sie meinen Vater grade kennengelernt hat, wo die beiden vergnügt im Garten rumspringen. Dann gibt es die Fotos von einer wilden Faschingsparty, wo einer der Partygäste auch am fortgeschrittenen Abend noch nüchtern genug war, das beschwipste Übereinander-kugeln der verschiedensten Männlein und Weiblein ausgiebig zu dokumentieren und meine Eltern mittendrin.
Und dann gibt es Fotos von meiner hochschwangeren Mutter, im Garten auf einer Liege oder in ihrem neu eingerichteten, hochmodernen Wohnzimmer, alle mit sehr missmutigem Gesicht. Und das war es dann. Kein Lächeln mehr, bis auf ganz wenige Ausnahmen fangen die Kameras für den Rest ihres Lebens nur ihre zur Schau getragene Enttäuschung ein. Ich glaube, dass sie Kinder wollte, weil heiraten und Kinder kriegen einfach das war, was alle wollten, weil es das war, was man sich unter Lebensglück vorgestellt hat. Zu sagen, dass man keine Kinder will, sondern lieber weiterhin wilde Parties feiern, war damals vielleicht auch schwer vorstellbar. Und das Kinder-haben war dann definitiv nicht so, wie sie sich es vorgestellt hatte. Sie hatte auch nicht bedacht, dass einem ja Konkurrenz heranwachsen könnte, vor allem, wenn man Töchter in die Welt setzt. Ich vermute ja, dass sie schon mit der Aufmerksamkeit, die so einer kleiner Säugling für sich beansprucht, gehadert hat. Ihr Vater war zu Evas Geburt schon drei Jahre tot, aber sie konnte vielleicht immer noch nicht davon lassen, seine einzige Prinzessin sein zu wollen? Ich weiß es nicht, aber schon die erste Tochter ist eine Kränkung, die sie nicht verwunden hat.
Nach der schon durch Geburt geschwächten und deshalb für immer schützenswerten Eva kommt dann drei Jahre später die kleine Steffi, und wenn ich so den Faden sehe, den ich bis jetzt gesponnen habe, so lässt sich meine schiere Existenz kaum erklären. Ich heiße Steffi nach Stefi von Gizycki, einer jüdischen Kindergarten- oder Volksschulfreundin meiner Mutter, die „irgendwann plötzlich nicht mehr da war“. Ich hatte immer vermutet, dass sich in dieser Namensgebung ihr schlechtes Gewissen darüber ausgedrückt hat, dass sie natürlich doch wusste, dass ihr Vater ein Nazi gewesen war. Erst Doktor Sigismund hat mich darauf gestoßen, dass es doch viel – ich weiß nicht mehr, welches Wort er gewählt hat, sagen wir mal: bedenklicher wäre, dass sie mich nach jemanden benannt hat, der aus ihrem Leben verschwunden ist. Da ist in der Wahl des Vornamens der geheime Wunsch versteckt.
Es gibt die wieder und wieder erzählte Anekdote, wie meine Mutter mit mir Baby aus dem Geburtshaus in der Floßmannstraße in Pasing nach Hause kam – in meiner Phantasie spielt sich diese Szene in der Küche meiner Oma Luisl ab – und sich meine Schwester über die Wiege beugte und sagte: „Das arme Baby, das hat ja gar keine Mama!“. Darauf folgt wie in einem Reigen erst ein promptes, aber nur gedachtes „und so ist es geblieben!“ und dann die nächste Anekdote, die meine Mutter immer mit einem Unterton von zurückhaltender Empörung erzählte: Dass sie nie den Kinderwagen schieben durfte, sondern die kleine dreijährige Eva sich dieses Recht vorbehielt. Das sagt etwas über die Vehemenz, mit der meine Schwester versucht hat, mich von ihr fern zu halten, aber in der leicht schmunzelnde Klage meiner Mutter lese ich zweierlei: eine Mischung aus Mutterstolz, wie aktiv Eva sich um mich kümmert, und einen Moment der Konkurrenz, weil mein Schwesterherz sie nicht ans neue Spielzeug gelassen hat.
Dass Eva nicht bereit war, Konkurrenz in Sachen Mutterliebe zu akzeptieren, ist das eine, aber was heißt das für das kleine, neue Baby, also für mich? In der Symbiose zwischen meiner Mutter und meiner Schwester, die übrigens nie wirklich gelöst wurde, ist kein Platz für eine Dritte im Bunde. Ich kann ja nur gestört haben. Auf meinen Kindheitsfotos sieht man mich vergnügt neben den beiden missmutig Dreinschauenden, Eva hat diesen immer leicht beleidigten Blick schon früh adaptiert. Und ich stehe dabei, auf Fotos bin ich immer gut gelaunt, weil dann meistens Besuch da war und der sich oft in einer besonderen Freundlichkeit, die ich damals nicht verstanden, aber genossen habe, für mich interessiert hat.
Meine eigenen Erinnerungen an die Kindheit beginnen zu einer Zeit, als wir noch alle im alten Teil des Hauses zusammenlebten, die Großeltern, meine Eltern, Eva und ich und Onkel Peter, der damals noch nicht verheiratet war. Ich erinnere mich an das wohlige Gefühl, aus dem Bett zu hüpfen und mich auf der Treppe runter schon auf die Gesellschaft der Großeltern in Omas warmer Küche zu freuen. Da muss ich so fünf Jahre alt gewesen sein, kurz bevor wir in den Anbau gezogen sind, da war es dann neu und kalt und keine Großeltern mehr da.
Da war ein Sonntagmorgen, an dem ich alleine in der noch nicht richtig eingewohnten Essecke beim Versuch, etwas von der kalten Butter abzuschaben, mir einen kleinen Bogen vom Daumennagel direkt an der Wurzel herausgeschnitten hatte. Es blutete buchstäblich in Strömen und ich wickelte den Daumen großzügig in ein Geschirrhandtuch. Meine Eltern an einem Sonntagmorgen nach dem samstagabendlichen Besäufnis zu wecken, stand außer Frage, das wusste ich ganz sicher; aber warum ich nicht einfach rüber zu den Großeltern gegangen bin, die bestimmt schon wach waren und sich garantiert gut um mich gekümmert hätten, kann ich nicht verstehen. Als wäre mit dem Umzug in den Anbau der Weg zurück zu ihnen versperrt worden. Dass wir, als das passierte, grade erst dorthin umgezogen waren, weiß ich so genau, weil die Garderobe in der Schule, in der ich mich am folgenden Tag verstecken wollte, damit niemand mich auf den Verband an meiner Hand ansprechen könnte, in dem Nebengebäude der Schule lag, in dem ich nur in der ersten Klasse war. Ich bin übrigens dabei geblieben, die Butter waagrecht vom Stück abzuschaben, der Vater meiner besten Freundin von allen wusste immer, wenn ich zum Frühstück da gewesen war, weil ich das Wappen der Weihenstephaner Butter zu zerstören pflegte.
Dr. Sigismund hat einmal vorgeschlagen, dass ich das Dreieck zu einer Pyramide erweitern könnte. Dann hätte meine Oma die vierte Ecke in der neuen dritten Dimension sein können, manchmal war sie das auch. Dann, wenn ich in ihrer Küche saß und jeden Mittag mit einer anderen Süßspeise gefüttert wurde, während sie mir die immergleichen Geschichten von früher erzählt hat. Aber bei der Verarztung von blutenden Daumen nicht.
Ich erinnere mich, dass ich im Garten rumgesprungen bin, ich hatte mir einen Stock umgebunden mit Zügeln dran und verbrachte Stunden damit, reiterliche Dressurübungen nachzumachen, trabend und galoppierend, während meine Schwester pünktlich zum nachmittäglichen Programmbeginn im Wohnzimmer den Fernseher eingeschaltet hatte. Manchmal bin ich ans Wohnzimmerfenster geritten, um einen Blick reinzuwerfen, blieb aber draußen. Ich hatte damals schon die feste Überzeugung, dass meine Freizeitbeschäftigung die Sinnvollere war.
Ich erinnere mich daran, im Garten neben Vati zu stehen, und ihm dabei Gesellschaft zu leisten, wie er schweigend Laub gerecht hat. Irgendwann waren meine Füße in den nassen Gummistiefeln so durchgefroren, dass ich weinend zurück ins Haus bin, empfangen von den Vorwürfen meiner Mutter, dass mein armer Vater jetzt ganz alleine weiterarbeiten muss. Ich wollte ihm ja eigentlich helfen, aber dafür war kein Raum in der Stille, die sich um ihn wie eine unsichtbare Kugel geschlossen hatte. Hätte ich auch einen Rechen bekommen und hätte ich helfen können, wäre mir ja auch nicht so eise-klotze-kalt geworden. Was macht man dann als nächstes in der warmen Stube? Am Fenster stehen und sich fragen, ob man nicht doch lieber wieder raus gehen soll? Mit der Schwester fernsehen? Irgendwie ist da kein Raum für nichts.
Das ist wieder nicht das Dreieckssystem, dem ich hier auf der Spur sein wollte, aber es ist ein Exempel, ein Makro-Beispiel für die Methode, wie man mich aus mir selber rausradiert. Statt wohligem Wärmen der durchgefrorenen Füße nur unauflösbares schlechtes Gewissen. Ich kenne bis heute solche Momente, in denen meine Gefühle und sogar körperlicher Schmerz in grellem Weiß weggeblendet werden von einer unauflösbaren, von existenzieller Not beherrschten Angst. Ich soll nicht da sein, ich soll verschwinden wie meine namensgebende jüdische Stefi, aber ich kann doch nicht anders als mit meinen einnehmenden 1,82 Meter und heute den dazu passenden Kilos da zu sein und entsprechend Raum einzunehmen.
Eine andere Erinnerung drängt sich jetzt in den Vordergrund und möchte erzählt werden. Ich erinnere mich nicht, wie es dazu kam, dass ich bestraft werden sollte, woran ich mich erinnere, ist, dass ich mir keiner Schuld bewusst war, wie es so schön heißt. Sie wollten mich ins dunkle Schlafzimmer sperren, es gibt das Gerücht, dass ich sehr jähzornig gewesen sein soll, vielleicht sollte ich auf diese Weise beruhigt werden. Ich sitze auf der Wickelkommode, die schon lange nur noch eine Aufbewahrungskommode ist und mit einer eiskalten Entschlossenheit balle ich versuchsweise meine Hand und überlege, ob ich damit die Glasscheibe der Schlafzimmertüre zertrümmern kann. Und dann springe ich runter, gehe zur Türe, erstaunlich ruhig, und lasse die mittlere der Scheiben zerspringen. Draußen sind anscheinend alle versammelt, jedenfalls ist sofort großer Trubel. Meine Mutter setzt noch an, mir den Ersatz der Scheibe mit 10 Mark vom Taschengeld in Rechnung stellen zu wollen, als sie sieht, wie sich das Blut in meiner Handfläche ausbreitet und am Handgelenk vorbei auf den Boden zu tropfen beginnt. Großer Schreck, alles vergeben und vergessen und ich werde verarztet und verbunden. Das fühlt sich noch heute gut an und nie wieder hat jemand versucht, mich in dunkle Räume zu verfrachten.
Ich erinnere mich an eine einzige Szene von körperlicher Gewalt. Ich hatte es irgendwie zu weit getrieben, ich meine einen kleinen Übermut in dieser fernen Erinnerung zu entdecken, aber bin mir sicher, nichts angestellt oder gar etwas Verbotenes getan zu haben, nur zu viel der guten Laune. Sie ist auf mich losgegangen mit hasslodernder Wut, vor der ich in Richtung Haustür flüchtete. In der Bedrängung schaffte ich es aber nicht, die Türe zu öffnen und drückte mich so in die Ecke zwischen Wand und Türe hinein, die Arme erhoben, das weiß ich noch. Ich weiß nicht, ob sie mich wirklich geschlagen hat oder ob sie abgebrochen hat, der große Schrecken für mich lag in ihrem Außer-sich-sein, das sie wahrscheinlich selbst überwältigt hatte. Sie wollte mich zerstören, das habe ich in diesem Moment in ihrem Gesicht gesehen. Und sie war verzweifelt, das war vielleicht noch beängstigender. Weil sie meiner nicht Herr werden konnte, zum Beispiel mit einsperren in dunkle Räume?
Mir scheint, dass diese Konstellation mit dem engen Band zwischen Mutti und Eva und mir als lose drumherum kreisendem Flatterball, der gerne auf die anderen Statisten im Haus auswich, in der Kindheit noch ganz gut funktioniert hat, problematisch wurde es mit Pubertät und das ist auch die Zeit, in der sie mehr Gehirnschmalz investieren musste, um mich in meinen Schranken zu halten.
Schwierig wurde es für meine Mutter, als es begann, sich herauszukristallisieren, dass ich nicht nur klüger als meine Schwester war, sondern dass das „Passt auf, dass ihr nicht so einen Hintern wie ich kriegt, sonst bekommt ihr keinen ab“, genau das, was meine Schwester gebrochen hat, bei mir abprallen würde. Eva konnte sie klein halten, und um mich klein zuhalten, musste sie andere Geschütze auffahren. Eva war schon damit beschäftigt, sich zu schminken und ihren zu dicken Hintern in kaschierender Kleidung zu verbergen für Abende, in denen sie mit ihrer besten Freundin ausgiebig in Kneipen herumsaß und darauf wartete, von einem Kerl angesprochen zu werden. Was ich nicht verstand. Wenn, dann ging man doch in die Kneipe, um sich ausführlich mit der Freundin zu unterhalten, ein fremder Kerl würde da doch nur stören?
Das System besteht darin, dass ich alles verstecken muss, was Evas Selbstwertgefühl verletzen könnte. Ich kann beschreiben, wie es war, aber ich kann nicht richtig fassen, wie es entstanden ist. Eva selbst hatte einen Spaß daran, mich zu triezen, ich erinnere mich daran, dass sie mich an den Haaren gezogen hat, spielerisch, mal links mal rechts und vor meinen Verteidigungsschlägen geschickt weggesprungen ist. Irgendwann wusste ich mich nicht mehr zu erwehren und habe sie am Kopf erwischt. Auf die Köpfe hauen durften wir nicht, das war die Regel, und sofort hat sie ihr Triez-Spiel unterbrochen und nach unserer Mutter gerufen: „die hat mir auf den Kopf gehauen!“. Das hat funktioniert und nur ich wurde geschimpft, ihr deutlich sichtbarer Triumph blieb ungesehen. Das ist ein typisches Große-Schwester-Ding, das war gemein, aber das hat nicht diese spezielle zerstörerische Qualität.
Aber ich erinnere mich auch daran, dass Eva und ich zusammen in meinem Zimmer sitzen, selten genug. Wir haben mal viel später über diese Zeit gesprochen und jede von uns war der festen Überzeugung, ihre Nachmittage alleine und einsam im Haus verbracht zu haben, heimlich auf die Mutter wartend, die dann vorhersagbar direkt darüber schimpfte, dass wir die Spülmaschine nicht ausgeräumt hatten. Was wir allerdings auch fast nie machten. Aber an diesem Tag waren wir in meinem Zimmer und ich versuchte, ihr von meinen Selbstmordgedanken zu berichten. Das Eigenartige ist ja, dass nichts Schlechtes aus diesem Haus dringen durfte und da gehörten solche Ideen dazu. Ich konnte also mit niemanden von „draußen“ drüber reden, aber wenn ich mich an meine Schwester gewandt habe, muss es schon arg gewesen sein mit mir. Sie explodierte fast, voller abschätziger Empörung kanzelte sie mich ab, wie ich es wagen könnte, wo mir doch alles zufiel und es mir so gut ging und ich – im Gegensatz zu ihr – nur so durchs Leben tänzelte. Ich spüre noch heute, wie sich ein bedröppeltes Schweigen über mich legt. Sie war es, die in diesem Moment das Dreiecksgestell, das unter meinem Unglück zusammenzubrechen drohte, mit Macht wieder aufrichtete.
Blut und Kälte
Irgendwann, noch lange vor den Suizid-Phantasien, war aus der kindlichen Empörung über die ungerechte Behandlung das Mädchen mit der coolen Ernsthaftigkeit geworden, die, die man mit schwierigen Situationen belasten durfte, vor denen Eva aus Gründen verschont wurde. Mein Vater konnte nicht behelligt werden, weil er seine Tage im Glaskasten in der Hypo-Bank verbrachte und meine Mutter war sowieso nicht zuständig. So kam es, dass ich Evas Zwergkarnickel, genannt Hasi, zum einschläfern bringen musste, weil es einen dicken Knoten am Hals hatte, den man als Krebs ansah. Der Tierarzt, seinen Namen habe ich vergessen, seine Praxis war in der Rathochstraße und wie ich Jahre später erfuhr, war er ein Schlesier, also auch einer, der als Zugezogener mit den Obermenzingern seine Sorgen hatte, so wie meine Großeltern Anfang der Dreißiger Jahre. Er nahm das Tier aus der Schachtel und griff dabei so unglücklich um seinen Hals, dass der Knoten aufsprang und – wider Erwarten – Eiter durch die gesamte Praxis schoss. Seine Assistentin musste kommen und alles reinigen und dann wurde Hasi doch mit einer Spritze ins Jenseits befördert. Dass das vielleicht gar nicht mehr nötig gewesen wäre, wie Dr. Sigismund freudig feststellte, als ich diese Geschichte erzählte, kam mir nicht in den Sinn. Eklig finde ich das übrigens erst jetzt, damals hat es nur meine Welt in die Schräge gebracht, weil einem Arzt sowas nicht hätte passieren dürfen. Ich erinnere mich noch, dass der Tierarzt Hasi wieder in die Schachtel gelegt hat und ihn mir mitgegeben hat, ich solle ihn doch im Garten vergraben, das wäre netter als wenn er ihn entsorgen würde. Ich hätte ihn ja lieber dort gelassen, wollte, dass das alles einfach rum ist, bin aber brav mit der Schachtel und dem leblosen Tier wieder nach Hause getrabt. Da war ich vielleicht 12 oder 13 Jahre alt. Es erfüllte mich mit einem stillen Stolz, weil ich so ruhig blieb und mich das nicht anrührte. In diese Zeit fiel auch der Unfall im Reitstall, als eine Frau vom Pferd in einen Stacheldrahtzaun gefallen war und mit aufgerissenem Oberarm zwischen den Ställen lag, umringt von einer aufgeregten Menschenmenge und ich mit einem Blick über die Szenerie versuchte festzustellen, ob schon jemand den Notarzt gerufen hatte und als ich sah, dass schon jemand Richtung Wirtschaft, also Richtung Telefon rannte, einfach stehen blieb und in Seelenruhe zusah, was passierte.
Als ich dabei war, als meine Oma am schwarzen Hautkrebs operiert wurde, war das anders. Da war ich dann vielleicht 16 oder 17 Jahre alt. Sie hatte einen großen Platschari am Dekolleté und der Hausarzt, der auch ein begeisterter Chirurg war, wollte ihn in der Praxis entfernen. Es war der gleiche Arzt und der gleiche Raum, in dem Eva und ich unsere Hornperlen an den Füßen entfernt bekommen hatten, hintereinander weg. Bevor ich dran war, saß ich neben der Liege und musste zuschauen, wie Eva operiert wurde und das Blut zwischen ihren Zehen runterlief. Ich habe diese Geschichten meinen Söhnen noch nicht erzählt, ich vermute mal, sie werden glauben, dass ich direkt aus dem Mittelalter stamme. Und wieder hatte man der Kleinen den schwierigeren Part zugemutet, hätte man mich eigentlich nicht solange ins Wartezimmer setzen können?
In diesem Praxisraum befanden sich auch die Karteikästen mit den Patientenakten und ich erinnere mich, dass ununterbrochen Arzthelferinnen kamen, nach Akten blätterten und mit diesen wieder Richtung Empfang verschwanden. Meine Oma hatte eine Heidenangst vor Spritzen, mehr noch als vor Donner und Blitz, und war sehr panisch. Genau wie ich vor wenigen Tagen, als mir ein Zahn für eine Krone runtergeschliffen werden musste und das beruhigt mich gerade sehr. Der großen Fleck war viel zu groß für einen ambulante OP, aber der Doktor war bekannt dafür, sehr gerne zu operieren und wollte sich diese Gelegenheit wohl nicht entgehen lassen. Das Entfernen des Melanoms fand sehr ruhig und konzentriert statt und die Wunde wurde großflächig mit weißem Verband abgedeckt. Aber dann kam dieser Moment, an dem eigentlich alles vorbei war und er in ihrem Gesicht über dem Auge die kleine hervorstehende Warze entdeckte und mit einem ach-die-entfernen-wir-lieber-auch sachte aber bestimmt daran zog und mit einem zielsicheren Hieb mit dem Skalpell das kleine Stückchen wegschnitt. Da hätte ich später zu Hause schon jemand brauchen können, der mich tröstend in den Arm nimmt.
Das waren Omas letzte Monate, Opa war schon 7 oder 8 Jahre tot. Sie hatte außer dem Hauskrebs auch Knochenkrebs und war eigentlich schon ans Bett gefesselt, aber es gab immer wieder lange, einsame Vormittage, an denen sie entweder ein Bad nehmen wollte oder rückwärts auf allen Vieren die Treppe runter krabbelte, weil sie meinte, noch die Küche aufräumen zu müssen. Das ging nicht immer gut. Sowohl mein Vater als auch Onkel Peter, ihr kleiner Sohn, kamen in ihren Mittagspausen bei ihr vorbei und versorgten sie zwischen Tür und Angel, und ich Abiturientin sowieso, aber ich erinnere mich nicht, dass meine Mutter ein einziges Mal dabei gewesen wäre. Sie hat sich einfach nicht um sie gekümmert, gar nicht. Ich wüsste nicht, dass die beiden überhaupt miteinander geredet haben. Aber alles aus Omas Schlafzimmer drang nicht nach außen, ich wäre nie auf die Idee gekommen, mit jemand darüber zu reden. Dass es ein zu hütendes Familiengeheimnis war, das im Haus bleiben musste, war mir intuitiv klar. Erst beim therapeutischen Erzählen gab es ein synchrones „wie im Krieg“. Und ich ein braver Soldat, Fremdenlegionärin möchte ich sagen, das stimmt nur halb, fremd hat ich mich da in meinem eigenem Leben schon gefühlt, aber weiblich fühlt sich daran nichts an.
Mir ist das nie aufgefallen, weil ich keinen Vergleich zu Frauen hatte, die sich um ihre Schwiegermütter gekümmert haben und ich will natürlich auch nicht der Regel das Wort reden, dass das der Job der Frau wäre, das ist auch nicht der Punkt. Die komplette Abwesenheit meiner Mutter in dieser Szenerie frappiert mich am meisten. Sie hat meinen Vater respektiert und auf ihn hat sie Rücksicht genommen, aber alle anderen waren Feinde, oder? Onkel Peter sowieso, weil zwischen ihn und seinen Bruder, mein Vater war 9 Jahre älter, passte kein Blatt, das konnte ihr nicht recht sein. Die Schwiegermutter hat sie einfach ignoriert und ausgeblendet, die eine Tochter zur Schwäche erzogen und die andere klein gedrückt. Das hat auch nicht aufgehört, als ich schon lange ausgezogen war und weit weg erst in Heidelberg und später dann in Mannheim mein Leben aufgebaut hatte.
Ich war dünner, auch wenn ich selbst mich zu dick gefühlt habe all die Jahre, ich war auch klüger und ich habe sogar mein Abitur geschafft, obwohl sie meine Versuche, dafür zu lernen, nachhaltig boykottiert hat. Ich sehe mich noch auf der sonnenbeschienenen Terrasse sitzen mit den kleinen Mathe-Abi-Vorbereitungsbüchern und die steigende Frustration darüber, dass sie mich spätestens alle 10 Minuten unterbrochen hat, um mich zum Beispiel den Mülleimer ausleeren zu lassen. Wenn ich mich in mein Zimmer zurückzog, gab es danach strafende Blicke und mein Entrinnen war die selbstgewählte Challenge des Abitur-ohne-Lernen. Auf dem letzten Klassentreffen, dem ersten, an dem ich nach 30 Jahren teilgenommen habe, habe ich erfahren, dass das nicht so ganz stimmt, ich habe der Christel fleißig Nachhilfe gegeben und damit wohl unser beider Mathe-Abi gerettet.
Ich habe gelernt, meine Erfolge zu verstecken. Ach, Abitur haben ist ja nicht so wichtig. Ich erinnere mich an ihre späte Empörung, als ich, schon Jahre mit dem M. A. der Kunstgeschichte ausgestattet, es gewagt hatte, mich als Akademikerin zu bezeichnen. Akademiker, das wären Ärzte oder Anwälte, aber doch nicht ich. Das hatte wenigstens schon eine Prise Witz, weil sie so blöd war, sich damit nicht auszukennen. Was ich davon aber mitgenommen habe und leider mein ganzes Berufsleben so praktiziert habe, ist es, meine Erfolge zu verstecken. Ich hatte in der Firma großartige Projekte, – meine Söhne jaulen schon auf, wenn ich nur „Adventskalender“ und „über 600.000 hits“ sage – und ich erinnere mich daran, dass ich darauf auch einen kurzen Moment sehr stolz war. Am nächsten Morgen aber saß ich an meinem Schreibtisch und musste auf einem blanken weißen Papier wieder bei Null anfangen, weil ich den Erfolg verstecken musste, um Eva Schwesterherz, die von allem sprichwörtlich nicht den blassesten Schimmer hatte und sich für mein Berufsleben auch nicht im Geringsten interessierte, nicht zu brüskieren. Dass es in der heutigen Berufswelt nicht von Vorteil ist, wenn man mit seinen Erfolgen nicht nachhaltig protzt, sei hier nur am Rande erwähnt. Der letzte Hauch davon hat mich umweht, als der Ex-Schwager, Jahre nach ihrem Tod, in meinem neuen Reich zu Besuch war. Wir waren nur zu zweit und saßen nach dem Abendessen auf der Terrasse und er fing an, mir zu erzählen, wie sehr es Eva doch belastet hatte, dass ich so klug war und Abitur hatte und sie nicht. Dieses System hatte in ihm einen Satelliten wie meine Metastasen in der Lunge kleine Trabanten haben.
Und warum musste sie uns klein halten? Erst Eva und dann mich? Damit wir uns nicht mit Vati auf ein Feierabend verabreden und sie zu Hause mit dem Abendessen sitzen lassen? Das musste wohl verhindert werden. Wenn ich jetzt aus der Distanz, also so bette-middler-mäßig „from a distance“ auf dieses Leben kucke, bin ich wie ein Solitär. Ein in sich abgeschlossenes Ding, also da schon das Stein-Ei, das in der Therapie aufgebrochen ist. Aber es ist, als wäre das alles nicht meins gewesen, mich selbst spüre ich nur in den einsamen Spielen im Garten. Das ist der andere Aspekt zur Unfähigkeit, mich abzugrenzen, wie eine andere Seite derselben Medaille. Ich reagiere auch heute noch auf widerstreitende Anforderungen an mich, übrigens auch, wenn es imaginäre Anforderungen sind, mit kompletter Selbstauflösung. Ich spüre meine durchnässten, eiskalten Füße dann nicht mehr, nur noch die väterliche Enttäuschung (der virtuelle Teil) und die Wut auf die vorwurfsgetränkte Mutter, das wäre der reale Teil, aber das ist streng verboten, und muss runtergeschluckt werden, bevor man’s richtig wahrnehmen kann.
Wendepunkte
In den Wochen vor dem Abitur war ich bei der besten aller Freundinnen zum Frühstück; also da, wo es die Butter mit dem Wappen gab. Es war nicht das erste Mal in dieser Zeit, dass ich, kaum aus der Türe und damit wieder alleine nach einem netten Zusammensein, einen kompletten Zusammenbruch erlebte. Es war eher die Regel als die Ausnahme, alles bröselte in einen grauen Aschehaufen zusammen, egal wie lustig und vergnügt ich mich wenige Minuten zuvor gefühlt hatte. Ich hatte schon einen Führerschein und auf dem Weg zu meinem Käferchen überlegte ich mir, diesem Elend ein Ende zu setzen. Von ihrer elterlichen Wohnung zu meinem Elternhaus ging es eine kurvige Straße lang, mitten durch einen Wald, den man mitten in München nicht erwarten würde, das Kapuziner Hölzl. Ich nahm mir vor, in der Kurve an der Unterführung auszuprobieren, ob es mir Ernst ist mit dem nicht-mehr-leben-wollen. Wenn ich es schaffen würde, geradeaus zu fahren, würde ich in einen breiten Baumstamm donnern und wenn ich die Kurve nehmen würde, dann wüsste ich wenigstens, woran ich mit mir bin. Es war nur ein kurzer Moment, in dem ich das Lenkrad auf geradeaus gestellt hielt, bevor ich mich in die Kurve legte. Auch wenn es lange dauerte, bis es mir wirklich besser ging, habe ich in diesem Moment die Entscheidung herbeigeführt, die ich gesucht hatte. Ich wollte offensichtlich leben, also musste ich auch nach vorne gehen und sehen, was ich daraus machen konnte. Hat im Endeffekt geklappt.
Dass ich meinen Weg gegangen bin, konnte sie nicht verhindern. Ich war in diesem langen, kalten Winter während oder nach dem Abitur, so genau weiß ich’s dann doch nicht, in Oma Jajas schwerem, schwarzen Pelzmantel bei Eiseskälte unterwegs, aber den Kragen hatte ich weit offen und keinen Schal am Hals. Ich konnte dort nichts ertragen, keinen Stoff und keine Berührung, ich musste beim leisesten Hauch sofort würgen. Und dann war da dieser lichte Moment, – das klingt wie dumme Nuss hat mal was kapiert, aber ich meine einen Augenblick von heller Klarheit, in dem etwas aufleuchtet, was sonst unter dem ganzen Alltagswust vergraben ist. Ich dachte: „Wenn du hier nicht weggehst, wirst du dran ersticken.“ Und obwohl ich diesen Gedanken damals ein bisschen arg dramatisch fand, habe ich’s gemacht und erstmal 330 km zwischen meine Mutter und mich gelegt. Ich habe es zu ihren Lebzeiten nicht ganz geschafft, mich aus der eisernen Zange zu befreien, aber erstickt bin ich immerhin nicht.
Als ich schwanger war, schlug sie vor, dass ich das Kind doch Eva und Sepp geben sollte, die könnten ja wegen Evas Zucker und Sepps Vasektomie keine Kinder bekommen könnten und hätten es ja eher verdient, weil sie wenigstens verheiratet wären. Das Verheiratet-sein war ein wichtiger Aspekt, weil sie mir, als sie einsehen musste, dass ich mein Kind behalten würde, fürs heiraten DM 10.000.- geboten hat (womit sie damals nix erreicht hat, aber Jahre später hat sie’s zahlen müssen). Aber die andere Seite ist natürlich die ausgleichende Gerechtigkeit. Ich glaube, das war ihr letzter Versuch, mein Leben gegen Evas aufzuwiegen. Damals habe ich das mit einer abschätzigen Handbewegung abgetan, weil es einfach zu absurd war, aber genau hier liegt „die nie endende Verachtung/Missachtung der Dinge, die ich tue“, von der ich in meinen Dreißigern mal in einem hellen Moment meinem Tagebuch berichtete. Es waren aber nicht „die Dinge, die ich tue“, die Abschätzigkeit richtete sich gegen mich als Person und die kleine Steffi versteht bis heute nicht, womit sie das verdient hat.
Ich selbst habe mich all die Jahre dagegen abgeschottet. Der eine Trick war, sie nichts von dem wissen lassen, was mich wirklich bewegte. Ich habe ihr hundert Geschichten aus meinem Leben erzählt, wenn ich auf dem Hundesofa saß und sie, in ihrer Campingliege thronend, meine Berichte goutierte, aber meine Gefühle, meine Schmerzen und – zu ihrer großen Empörung, wenn sie es dann später doch einmal mitbekam – meine Krankheiten habe ich ihr vorenthalten. Ich habe ihr keine Angriffsfläche geboten, weil ich in den paar Tagen, die ich da war, immer alles so gemacht habe, wie sie es wollte und mir nur wenige, genau abgezählte Stunden mit den Freundinnen erlaubte. Wenn ich von solchen Besuchen wieder zurück war, dauerte es Tage, bis der innerliche Eisblock wieder geschmolzen war.
Aber ich habe überlebt, im Gegensatz zu Eva Schwesterherz. Es gruselt mich immer noch, wenn ich an diese Szene denke, als ich mit Mutti an Evas mit Rosenblättern geschmückten Totenbett stand und sie sie abgebusselt hat, demonstrativ. Mit einem Seitenblick auf mich sagte sie: „Jetzt darf ich das endlich wieder, jetzt kann sie es mir nicht mehr verbieten!“. Es war der schräge Blick des am-Ende-krieg-ich-euch, aber genau das war der Irrtum. Eva hatte sich ihr – endlich und endgültig – entzogen.
Ich habe mir ein Leben aufgebaut, das jetzt so im Rückblick und Alles in Allem zusammengenommen, doch ziemlich wunderschön daherkommt, aber den verkohlten Pfahl im Solarplexus habe ich lange Jahre mit mir herumgetragen und konnte ihn nicht loswerden.












