Wenn ich auf einem Konzert von der wunderbaren Saxophonistin Alexandra Lehmler bin, tauchen, während die Musik tönt, Bilder aus den Innertiefen auf, wie ich es bisher nur von psychoanalytischen Wachtraumreisen kannte. Ihr Sopransaxophon kann mich aus den dunklen Tiefen des Kontrabass engelsgleich emporheben. Immer wieder komme ich beim Tannenwald vorbei, den ich als eines der ersten meiner aufsteigenden Bilder gesehen hatte; ich selbst neben einer auf einem Dachlattengerüst aufgebauten märklin-ähnlichen Landschaft stehend, allerdings nur ein Nadelwald ohne jegliche Architektur, Menschlein oder Gleisen. Manchmal bin ich auch inmitten des Waldes und versuche mich mitten in dieser von einem dichten, weißen Schleier bedeckten feucht-dunklen Grünheit zu orientieren. Aber die tiefste Tiefe war diesmal die Erinnerung an einen Moment beim Durchqueren des Autobahnsees, als das unendliche Petrol-Dunkelgrün mich hinabziehen wollte und ich zum ersten Mal den Reiz dieses Sogs zu ahnen begann, der zuvor immer eher ein Algen-Verschling-Grusel gewesen war. Das ist einer dieser kleinen Momente, die ganz unscheinbar daherkommen und die erst im Nachhinein zu historischer Größe heranwachsen. Wenn sich zeigt, dass sie Wendepunkte waren, an denen etwas Neues begonnen hat, sich herauszukristallisieren. Und die geben einem Ort dann eine spezielle Schwere.
Ich sollte wieder schreiben, denke ich auf der Heimfahrt durchs nasse dunkle Mannheim. Vielleicht über historische Orte? Und dann sehe ich, dass es schon einen Entwurf über den Autobahnsee gibt, offiziell heißt er Langwieder See, – nein! beim Recherchieren auf Google Maps muss ich feststellen, dass es sich mittlerweile um eine Langwieder Seenplatte handelt! – und heutzutags hat er sogar eine eigenen Rastplatz auf der A8.
Die stärkste Erinnerung daran ist natürlich diese unsägliche Fahrradtour, die ich wenige Tage vor ihrem Tod dorthin unternommen habe. Meine Mutter diskutierte über Wochen mit ihm, also dem Tod, darüber, wann es jetzt endlich soweit wäre, sie hätte sich das jetzt so vorgenommen. Ich war mit dem Radl geflüchtet aus dem Elternhaus, aus der Situation. Ich wollte eine Runde drehen und habe mich dabei so gnadenlos verfahren, dass ich voller Angst war, den Weg zurück nicht mehr finden zu können, bevor ich zu erschöpft wäre, um weiterfahren zu können und war dann plötzlich doch am hinteren Ende des Sees angelangt. Bin dann ans vertraute Ende des Sees geradelt und sehe mich noch heute dort am groben Kieselstrand stehen und den Gott anbeten, an den ich seit Teenagertagen nicht mehr glaube, dass er sie endlich zu sich nehmen solle, dass er sie endlich erlösen solle und mich gleich mit von ihr.
Der abendliche Ausflug zum Autobahnsee war ein Sommerritual in meiner Familie. Wenn mein Vater von der Bank nach Hause gekommen war und die erste Erschöpfung ausgesessen hatte, fuhren wir raus und dort saß er dann wieder auf seinem Handtuch und wartete darauf, dass die zweite Erschöpfung vorbei ging, während meine Mutter ins Wasser vorauseilte, ihre 10 Züge nach links und ebenso viele nach rechts abzählte, um dann wieder rauszukraxeln und mit anfangs schweigender Ungeduld darauf zu warten, dass er sich endlich aufraffte. Manchmal war ich schon vorgegangen und kreiste im Wasser, bis er auch kam, aber meistens ging ich gemeinsam mit ihm. Auch hier hatte er die Ruhe weg und gewöhnte sich langsam an die nasse Kälte, bis er dann endlich in Rückenlage und mit ausladendem Fuß-Geplantsche sich in Gänze ins Wasser begab. Den Trick mit dem rückwärts ins Wasser gehen habe ich mir von ihm abgeschaut, das schützt den empfindlichen Bauch. Meist sind wir rausgeschwommen, bis wir auf Höhe des Steges vom Wasserrettungshäusel waren, haben dann ein bisschen rumgeplantscht, manchmal geredet, manchmal nicht, aber es war immer ein besonderer Moment, Welten entfernt von allem und von allen anderen im Mittelpunkt des Sees.
Ich erinnere mich, dass er und ich auf dem Parkplatz des Sees von einem Gewitter überrascht wurden und wir die schlimmsten Blitze und das darauffolgende Gedonner im Käfer abgewartet haben, oder war es schon ein Golf? Wir waren nur zu zweit, weil weder die Mutter noch Eva das Risiko einer verpatzten Gelegenheit hatten eingehen wollen. Und als es nur noch regnete, sind wir in Badeklamotten zum See und als uns die Flucht vorm Regen ins Wasser gelungen war, sahen die Regentropfen aus, als würden sie senkrecht nach oben springen. Der See gehörte uns, niemand anderes war da und alles atmete.
Ein andermal waren wir mitten auf dem See und ein anderer Schwimmer – ein Kunde von der Hypo-Bank -, hat meinen Vater angesprochen, ob ich seine Tochter sei. Und in seiner höflichen Art hat er das bejaht. Kaum war der Typ außer Sicht- oder besser Hörweite, fing mein Vati an prustend zu lachen und sagte: „Ich hätt‘ sagen sollen, dass du mei Freundin bist!“







