Der Soundtrack meines Lebens

Der Begriff „Soundtrack“ gefällt mir, weil Dr. Sigismund ihn vorgeschlagen hat. Er passt, weil die Lieder jeweils für einen bestimmten Aspekt meines Lebens stehen. Wenn ich mir mein Leben im Rückblick als einen Film vorstelle und versuche, Szenen zu greifen, die mit Musik unterlegt sind, dann passt er allerdings nicht. Erst über die Melodien erschließen sich aus einer anfänglichen weißen Leere Erinnerungen und Sequenzen, die zur Musik gehören. Das heißt, dass diese Sicht kein Soundtrack ist, weil es nicht die Hintergrundmusik meines Lebens ist, es ist mehr eine Art Parallelspur, die sich hier entfaltet, die meine Geschichte auf eine spezielle Art erzählen kann. Welcher Aspekt das genau ist, weiß ich vielleicht, wenn ich mit dieser musikalischen Reise fertig sein werde.

Der erste wichtige „Meilenstein“ (das muss in Anführungsstrichlein gesagt werden, zu sehr klingt es nach den „milestones“, die wir auf der Arbeit immer anvisieren sollten) der Eroberung und Entfaltung meiner musikalischen Welt war das Sterben meines Vaters. Da war es noch das intensive, mit einer neuen emotionalen Durchlässigkeit begleitete Hören in der S-Bahn auf dem Weg zur Arbeit auf einem kleinen mp3-Player. Und erst in den letzten Jahren der zweite große Schub mit dem, was auf der Schulblockflöte als Befreiungsversuche für die „gefesselte Lunge“ anfing, sich über die weichwarmen Tenorblockflöten zum wundergoldenen Saxophon entwickelt hat, mit einem Intermezzo auf dem Saxonett genannten unsäglichen Quietscheteil. Die Musik, die ich von außen in mich aufgesogen habe, kann ich jetzt dann endlich aus meinen eigenen Tiefen aufsteigen lassen. Wie ich an das Saxophon geraten bin, weiß ich immer noch nicht so genau, vielleicht hat die beste aller Freundinnen da noch ein Geheimnis.

Kindheit

Die Musik war in meiner Kinderzeit eine Randerscheinung. Ich erinnere mich nur an ein paar Begebenheiten. Ein kleiner, leiser Moment, in dem der Blockflötenlehrer, nach dem ich ein Lied hatte vorspielen müssen, ein leicht schnippisches „oh, da hat jemand mal geübt“ von sich gab. Aus heutiger Sicht erstaunt mich, dass das Spielen vor Publikum an sich kein Problem für mich gewesen zu sein scheint. Ich erinnere mich an eine Musikstunde, in der Reinhard und ich uns kichernd hinter dem überdimensionalen Xylophon versteckt hatten und es uns ein komplettes Rätsel blieb, dass wir dabei ertappt wurden, wo man uns doch gar nicht sehen konnte. Und ich erinnere mich an die eine Szene vor der Schule, in der ich wohl zu spät gewesen sein muss, weil außer dem einen Jungen und mir niemand da war (oder sind sie alle in meiner Erinnerung zu Luft verblasst?). Ich bin ganz vertieft, singe leise vor mich hin, vielleicht hüpfe ich auch noch zu einem Lied in meinem Kopf und steuere auf die große Freitreppe zu, die ins Schulgebäude hineinführt. Und der Junge ließ im Vorbeigehen einen abfälligen Kommentar wie eine Seifenblase zu mir hin sinken, eine süffisante Bemerkung über die Schiefe meines Gesangs, und als die auf meiner Haut platzte, brannte sich das bei mir so intensiv ein, dass ich mich für Jahre, ja eigentlich sogar Jahrzehnte nicht mehr traute, meine Töne einem Hörer zuzumuten. Heute habe ich, nach Jahren des lauten Mitsingens im Dienstwagen auf dem Weg zur Arbeit, mit dem grade entdeckten „Chor für Menschen, die nicht singen können“, den Ausweg gefunden.

Wenn es dann um die Melodien geht, erinnere ich mich am deutlichsten an den Kuckuck, der verschwinden soll, aber auf magische Weise wiederauftaucht, das war für mich ein erstes Herzenslied. Es erschien mir zwar unlogisch, wie ein totgeschossener Vogel plötzlich wieder da sein soll, aber seine Wiederkehr in der vierten Strophe bereitete mir ein heimliches, eigentümlich vertraut wirkendes Vergnügen. Vielleicht, weil ich in Wirklichkeit auch verschwinden sollte, so wie das jüdische Mädchen Stefi von Gyzecki, nach dem ich benannt bin, plötzlich eines Tages aus dem Leben meiner Mutter verschwunden war. Sie hat mir das immer wieder einmal erzählt und ist dabei verlässlich in ein bleibendes kindliches Erstaunen über dieses Ereignis retardiert.

Auf einem Baum ein Kuckuck saß

So hört sich das dann auf der Tenorblockflöte an. Allen, die von ihrer Schulzeit her blockflötengeschädigt sind, rate ich davon ab, sich die Hör-Dateien anzutun, aber für die ganz Mutigen spiele ich den Kuckuck sogar mit einer Sopranflöte an, also auch in der schulischen Tonhöhe.

Auf einem Baum ein Kuckuck saß – Schulblockflöte

Ein anderes Lied tauchte über einige Wochen regelmäßig auf, gerne, wenn ich mich morgens im Bad für die Arbeit rüstete, und dabei eine Melodie summte und lange nicht merkte, dass es immer dieselbe war. Und die sich ewig nicht zu erkennen geben wollte. Das Lied kam und ging in Wellen und ich kam nicht drauf, bis irgendwann die Silben „tschim tschim tscherie“ aus den Tiefen aufstiegen.

Daran erinnerte ich mich erst wieder, als ich Jahre später bei Dr. Sigismund aus der staubigen Ecke mit dem Regenschirmständer gerettet werden musste, und er sagte: „Da gibt es noch jemand mit Regenschirm“, und ich: Natürlich! Mary Poppins! Lange danach habe ich dieses Foto gefunden, ich hatte sogar eine Mary-Poppins-Puppe, hier ist der Beweis. Und dann finde ich auf YouTube den Straßenkünstler quietschvergnügt durch die Straßen tanzen und Chim Chim Cheree singen, an jeder Seite ein begeistertes Kind, links ein Mädchen, rechts ein Junge und ich bin dabei. Die ganze Kindheit öffnet sich mit diesem Jauchzen.

Letztes Jahr in der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr – auch ein Zwischenreich! – gab es den alten Film sogar im Fernsehen und ich saß gebannt im Sessel, als die Schornsteinfeger in gewagten Sprüngen über die Dächer tanzten und sprangen. Es waren wohl die von London, aber ich sehe trotzdem den Eiffelturm im Hintergrund. So trifft es sich mit dem an ein Pariser Dach gefesselten Kerl aus meinem eigenen Film-Szenerien (hier nachzulesen: Frau Noll und der fünfjährige Junge).

Chim Chim Cheree

Das Wohnzimmer mit der Tapete mit den großen orangenen Kreisen und dem breiten Sofa mit den beiden dazugehörigen geliebten Drehsesseln in dreckabweisendem Dunkelgrau ist der Ort, der nachmittags Eva gehörte. Sie hatte dort den Fernseher in Beschlag genommen, während ich draußen im Garten auf dem buchstäblichen Stecken-Pferd Dressurübungen absolvierte und nur gelegentlich einen Blick durchs große Fenster mit der vollgestellten Blumenbank hereinwarf, um zu sehen, ob im Fernsehen was geboten wurde. Ich verbat mir dann aber, mich dazu zu setzen, weil damit hätte ich ja Schwäche gezeigt, im Garten sein war viel gesünder und moralisch sowieso besser.

Trotzdem haben wir viele Filme zusammen gesehen, da war mehr gemeinsames Erleben, als wir uns selbst später dran erinnert haben. Zum Beispiel „Mein Name ist Nobody“, Terence Hill hat uns beiden gut gefallen. Ob ich die Titelmelodie mal mit meiner Flöte hinbekomme, ist noch offen, wenn es mal klappt, trage ich es nach.

Raindrops keep falling on my head” ist auch so eine Melodie, die über viele Jahre immer wieder mal aufgetaucht und wieder versunken ist, ein weiterer Badewannensong. Die allerleichteste, schwingende tröpfelnde Melodie über ein Gangster-Zwillingspaar, die am Ende doch sterben müssen, weil so glücklich und frei zu sein bestraft werden musste. Das war jedenfalls mein Resümée damals. Nichtsdestotrotz haben Eva und ich es geliebt, Robert Redford UND Paul Newman, da war kaum Steigerung möglich.

Raindrops keep falling on my head

Teenager

Vor lauter Pferdestall hatte sich die Pubertät bei mir ja erst mal ein bisschen verzögert, aber mit der ersten Fahrt nach Taizé kam sie dann mit Macht. Langhaarige Jungs, Gitanes Mais und Gitarrengeklimper, dem man fast rund um die Uhr lauschen konnte. Fast das gesamte Repertoire der Liederkiste, des Liederkarren, Liedercircus oder wie sie alle hießen, ist mir dort in kürzester Zeit begegnet. Mitsingen war auch da schwierig, weil mein Schwesterherz Eva und ihr kritischer Blick in der Nähe waren, aber im Laufe des Aufenthalts wurde sogar sie von der Liebe zu allen Menschen ergriffen, dann ging sogar das.

Ich habe mal ein paar Klassiker rausgegriffen:

Dona, Dona Dona
Where Have all the Flowers Gone?
Bella Ciao

Diese Liste ließe sich natürlich fast endlos fortsetzen…

Und ich erinnere mich an einen freien Nachmittag auf einem Gruppendynamik-Seminar für die evangelische Jugend in der Nähe von Murnau, an dem der große blonde Ingo und sein schmaler dunkelhaariger Freund in der von der tiefstehenden, spätherbstlichen Sonne durchfluteten Kantine ein wildes Gitarrenkonzert gaben und darauf bestanden, dass die country roads sie nicht nach Hause bringen sollten.

Country Roads Take me Home

So, und jetzt habe ich mit einem klassischen Cliffhanger aufzuwarten, wo ich doch immer wieder meine Söhne fragen muss, wie das heißt, weil mir der fürs netflixen essentielle Begriff immer wieder entfällt. Aber jetzt muss der, der mich gerne Saxophon spielen hören möchte, auf den zweiten Teil meiner LebensBegleitMusik warten. Coming Soon!

Und hier ist: Der Soundtrack meines Lebens – Teil 2, viel Spaß!

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