Ich würde gerne „ich erinnere mich“ sagen, eine Phrase, die langjährigen ZEIT-Lesern bekannt vorkommen dürfte, aber an die beiden ersten Szenen, die jetzt kommen, kann ich mich nicht „erinnern“, entweder weil ich grade ein paar Tage alt war oder weil sie „in der Realität“ so nicht stattgefunden haben.
Die viele Male wiederholte Anekdote meiner Ankunft im groß- und elterlichen Heim ist für mich in dieser Küche verortet: Meine Mutter kommt mit einer Babytragetasche aus dem Gang in die Küche eingebogen, dort warten sie alle: Opa Gustl, Oma Luise und meine Schwester, vielleicht hat sogar noch Onkel Peter Platz gefunden. Mein Vater ist noch im Gang, er kam nach meiner Mutter ins Haus, und verräumt die Autoschlüssel. Er hat uns abgeholt, es war nicht weit von der Floßmannstraße 8, die Geburtsklinik mitten im Pasinger Villenviertel. Ich hatte es immer schick gefunden, nicht in einem Krankenhaus geboren zu sein, allerdings war das nicht der Traum von der Geburt ohne Krankenhausduft, wie ich sie bei meinen Söhnen hatte, sondern die Gegenreaktion auf all den Schrecken bei der Geburt meiner Schwester im Dritten Orden. Jetzt wollen alle die neue Erdenbürgerin bestaunen und da beugt sich meine Schwester über mich und sagt voll Mitgefühl: „Das arme Baby, das hat ja gar keine Mama!“. Wenn ich heute diese Szene erzähle, schnappe ich fast automatisch ein: „und so ist es auch geblieben“ hinterher. Bei meiner Mutter schwang eine Art Empörung über Evi mit, wenn sie diese Geschichte zum Besten gab, gefolgt von der nächsten Anekdote, die wie an einer Kette aufgefädelt daran gereiht wurde: dass sie nie den Kinderwagen schieben durfte, weil Evilein das nicht duldete. Im Kindergarten war die damals Dreijährige nicht, weil meine Mutter sie beim abholen heulend auf dem Schrank geparkt vorgefunden und deswegen nach ein paar Tagen wieder abgemeldet hatte.
Die zweite Szene in dieser Küche stammt aus meinem Zwischenreich. Wenn ich mich recht erinnere, ist es eines der ersten Bilder, das sich aus der unsichtbar-weißen Mauer der tiefsten Depression herausgelöst hat. Wieder sind sie alle in der Küche versammelt, meine Mutter ist meiner Schwester zugewandt, mütterlich beugt sie sich über sie und ich stehe mitten in dieser Küche und verstecke mich wahlweise hinter meinem Vati oder hinter meiner Oma. Ich bin klein, ich passe hinter Omas dicken, runden Hintern, also zähle ich vielleicht grade mal die 5 Jahre, die in meinem Zwischenreich so eine Bedeutung zu haben scheinen. Und ich freue mich, dass ich so schlau bin, dass ich schon weiß, dass man sich vor der mütterlichen Zuwendung besser versteckt. So ein kluges Mädchen.

In Wirklichkeit gibt es diese Küche nicht mehr. Nachdem mein Onkel Peter nach dem Tod meiner Oma ins Karwinkel gezogen ist, hat er – vor etwa 40 Jahren – schnell seine eigene altbayerisch-moderne Mischung dort eingebaut. Für mich ist es immer die Küche meiner Oma geblieben, bei jedem München-Besuch seitdem war ich heimlich erstaunt, dass sie nicht mehr so aussah wie zu Oma Luisl Zeiten. Vom Flur her kommend, also entweder von draußen oder direkt vom Laden, führte ein schmaler Gang in Richtung Wohnzimmer und von diesem Gang aus konnte man in die Küche abbiegen. Im Gang gab es einen Vorratsschrank aus Metall, der berühmte „Blechschrank“, der jetzt in Mannheim Werkzeug und Shampoos aufbewahrt. In der Küche stand links der Gasherd und daneben ein richtiger Spülstein, der Wasserhahn mit einem Verlängerungsschläuchlein aus Gummi, damit es nicht so spritzt. Dort war der Boden gefliest, mein Bild von roten und blauen Fliesen mit Rautenmuster tauchte eines Morgens aus einer nächtlichen Tiefe auf, ob mich die Erinnerung hier trügt, kann ich nicht sagen.
Eine Eckbank, Poggenpohl-Schränke mit den von durchsichtigen runden Platten geschützten halbrunden Metallgriffen, die für mich der Inbegriff von Küchenmöbeln sind und ein breites Fenster, von dem aus man einen guten Blick über die Straße bis hin zur Bauseweinallee hatte. Ich erinnere mich, nun wirklich, wie ich eine Zeitlang jeden Tag nach der Schule auf dieser Eckbank saß und von Oma Luisl ein Mittagessen bekam. Ich sehe sie, die Hände mit selbstgehäkelten Küchenhandschuhen vor der Hitze geschützt, einen süßen Auflauf aus dem Ofen holen. Und ich erinnere mich daran, so viele Kartoffelpuffer mit Apfelmus verschlungen zu haben, dass mir fast schlecht war. Es gab eigentlich immer Süßspeisen.
Dann erzählte sie, leider eigentlich immer das Gleiche: Dass ihr August ein Guter gewesen sei, der sie nie geschlagen hat. Und ich verstand es nicht. Dass war ja wohl das Mindeste, oder? Heute denke ich, dass sie vielleicht bei ihren Eltern etwas anderes gesehen hat. Auch wenn die letzten Jahre mit Gustl schwer waren, weil er geistig verwirrt war, – damals hieß das „verkalkt“ – und nachts um 3 Uhr nach einem Mittagessen verlangte und sie es ernsthaft zubereitete, nur um ihn dann wieder schlafend vorzufinden, habe ich doch den Eindruck, dass sie ein schönes Paar waren, aber das ist eine andere Geschichte.