ich würde gerne nettere Geschichten veröffentlichen, aber erst muss ich diese aus dem Weg räumen. Sie drücken nach vorne und haben sich in meiner inneren Reihe der als nächste zu behandelnder Themen an erste Stelle vorgedrängelt wie arrogante, es eilig habende Kunden in der überfüllten Postfiliale am späten Samstag Vormittag.
Die erste Episode schlummert schon einige Zeit in meinen Entwürfen:
Das Baby auf der Wickelkommode
Ich sehe ein kleines Baby auf der Wickelkommode liegen, um den Hals ein hellgelbes Plastikband, das mit übergroßen Druckknöpfen am Tisch festgeklickt ist, damit die Mutter „in Ruhe“ die Windeln wechseln kann. Ich kann parallel beide Rollen einnehmen, spüre das Würgen und die Panik am Hals und bin die Mutter im Begriff, sich am Windelpaket schaffen zu machen. Hier in unserem schönen hohen Mannheimer Haus im Fitness-Musik-Gästezimmer, auf der Wickelkommode, auf der Max gewickelt worden war, als ich sie türkis gestrichen hatte und davor Eva und ich, als sie weiß mit roten Schubladen war. Ich spüre das Würgen und die Panik am Hals, aber das Baby hat schon gelernt, stillzuhalten, um nicht ersticken zu müssen, brav findet es die Mutter. Ich versuche, in die Rolle der Mutter zu schlüpfen um das gelbe Band wegreißen und das kleine Wesen in meine Arme bergen zu können. Aber es reißt mich zurück und ich stehe wieder als aus der Zeit gefallener Beobachter da und muss mir meine Vergangenheit anschauen.

Tagelang verfolgte mich dieses Bild und ich versuchte immer wieder, mich als Retterin in diese Szene zu stürzen und konnte es nicht. Immer wieder musste ich mir an den Hals fassen und dann erinnerte ich mich an einen Moment in meinem letzten Winter in München im Elternhaus. Es war ein sehr kalter Winter, so kalt, dass ich Oma Jajas alten schwarzen Pelzmantel tragen konnte. Der war aus „Seal“, hieß es, aber was das war, habe ich nicht realisiert. Trotz der Eiseskälte ertrug ich es nicht, dass irgendein Stoff oder Schal mich am Hals berührte, weil es mich sofort würgte. Also war ich in dickes, arktisches Fell gehüllt, aber nackig am Hals. Und ich erinnere mich daran, dass ich damals dachte: „Ich ersticke, wenn ich von hier nicht weggehe“. Das konnte ich dann aber erst, als Oma Luisl gestorben war.
In meinem Tagebuch geht es nach dieser Szene so weiter:
Es ist, als ob psychisch und somatisch sich beständig enger verzahnen. Wie das sogenannte Sodbrennen sich in ein morgendliches Halsweh reduziert, an der Stelle, die früher nicht angefasst werden durfte. Die Erschöpfung, die von Gliederschmerzen begleitet wird, geht parallel mit dem Pflock im Herz. „Gliederschmerzen“ ist so ein schönes Wort in seiner Ungenauigkeit. Wenn ich nicht sagen kann, ob mir die Gelenke, Muskeln, Sehnen oder Nerven wehtun, passt das medizinische „Gelenkschmerzen“ nicht, aber mit „Gliedern“ könnte es doch alles umfasst werden. Der Eintrag ist zwei Jahre alt und ist leider immer noch nicht von der Hand zu weisen.
Der Pflock im Herz? Wieder suche ich in meinem Tutto-Completo-Word-Dokument, das alle Tagebücher seit Beginn der Depression beinhaltet und werde, nachdem Suche nach „Pflock“ keine weiteren Ergebnisse zeitigt, mit „Pfahl“ fündig:
Ich sitze auf der Treppe in O’menzing, Mama steht unten in der Küchentüre im Dirndl. Ich sitze in der wärmenden Sonne am großen Fenster im Treppenhaus, strahlendes Licht umfängt mich, ich bin unbedarft und ahne nichts von dem Schlag, zu dem sie, siegessicher lächelnd, ausholt. Sie rammt mir einen schwarz verkohlten, angespitzten Pfahl in den Solarplexus, ins SONNENGEFLECHT und sie macht es mit Worten. Ein halber Satz genügt, die Blünsi-Steffi in ihren dunkelroten Gummistiefeln zu zerstören.
Das korreliert mit einer vergleichsweise harmlosen Erinnerung, die sich nicht auf die kleine – fünfjährige? – Steffi bezieht, sondern auf den Teenager: Es war ein Morgen nach einem Abend, den ich mit ihr alleine verbracht hatte, ein seltenes Ereignis, weil mein Vater normalerweise nicht ohne sie ausging. Sie hatte sich etwas vorgenommen und mich über meine Puchheimer Zivi-WG ausgefragt, bei denen ich viel freie Zeit verbrachte. Ich erinnere mich an einen frühen Morgen, wo ich mit Thommy und seinem Bumerang über einen frisch gepflügten Acker gestapft bin, immer den nicht rückkehrwilligen Bumerang im Blick; ich erinnere mich an eine winzige, klassisch von ungespültem Geschirr überquellende Küche und dass ich einmal geholfen habe, daraus eine saubere Küche zu machen und mir dafür ausgiebige Kritik der emanzipierten Jenny anhören musste.
Meine Mutter wollte herausfinden, auf welchen der Kerle ich es abgesehen hatte und fragte so ungewohnt freundlich und interessiert, dass ich mich animiert fühlte, ihr davon zu berichten, dass es mir darum nicht ging. Und erst am nächsten Morgen, als ich die Treppe runterkam, immer noch beeindruckt und hoffnungsfroh von ihrem Verständnis, empfing sie mich in der offenen Küchentüre mit einem triumphierenden: „Du hast es doch auf einen von denen abgesehen, aber der will nix von dir und deswegen tust du so, als ob du nix von ihm willst!“ Diese Szene ist mir so nachhaltig in Erinnerung geblieben, weil in diesem Moment sich in mir etwas zusammenballte und ich mich entschloss, mich ihr gegenüber nie wieder zu öffnen. Das Bild mit der Rüstung tauchte auf, als ich diese Szene meinem Dr. Sigismund erzählte. Ich sah mich diese Treppe herabsteigen und dabei schloss sich der Torso einer schimmernden Rüstung um mich und sollte dort lange Jahre bleiben.

Die Rüstung scheint nicht ins Gruselkabinett zu passen. So lange sie neu war, war sie so blendend, dass keiner mehr einen Blick ins Innenleben fand. Ich auch kaum. Sie zerbröselte erst 40 Jahre später, kaum dass meine Mutter gestorben war. Es dauerte dann noch Jahre, bis sich die nackte, wunde, vereiterte Haut, die sich darunter verborgen hatte, in ungewohnter Luft und Sonnenlicht als Major-Depression manifestierte. Unter der Rüstung wäre ich erstickt, aber ohne war kein Schutz. Den hätte ich gebraucht, gegen die Chefin und gegen die exponentiell steigende Sinnlosigkeit im Marketing. Der Krebs wuchs dann, Ironie der Psychosomatik, genau dort und hat auf seine Weise nach Licht und Luft geschrien.